Wir brauchen mehr Göttinnenanbeterinnen

Wachsamkeit, Beharrlichkeit und Geduld

Vor ca. 12 Jahren sah ich sie zum ersten Mal, langsam in rhythmischen Bewegungen über die Straße wandelnd. Auffallend, unwirklich, fremdartig. Ein heißer Sommertag und der Asphalt glühte. Ich kniete mich neben sie und beobachtete das imposante grüne Insekt genau – sie drehte ihren Kopf zu mir und schaute mich mit ihren großen Augen direkt an. Sie schaute mich bewusst an. Ich lächelte und half ihr über die Straße. Vor mir war tatsächlich eine Europäische Gottesanbeterin.

Glückselig meldete ich den Fund einer ganzen Population dem Naturschutz, welcher sie kartierte. Später erklärte man mir, dass sie wahrscheinlich mit der Bahn zu uns nach Süddeutschland gefunden hat und sich auf dieser unverbaubaren Wiese vor dem Friedhof in unserer warmen Weinregion sehr wohl fühlt. Sie ist die einzige Vertreterin der Ordnung Fangschrecken in Mitteleuropa. Auf Grund des Klimawandels mit trockenen Sommern und milden Wintern hat sie gute Bedingungen auf dieser Wiese. Faszinierend – eine Art mit so einem wundervollen Namen … Hat sie diesen Namen wohl tatsächlich nur wegen der betenden Fangarme? Mal kurzerhand recherchiert wird es noch interessanter. Der wissenschaftliche Name Mantis religiosa setzt sich aus dem lateinischen mantis = Seherin und (wegen der Gebetshaltung) religiosa = betende, gefaltete Hände zusammen.

Die darauffolgenden Jahre kommt sie immer wieder in mein Leben, sitzt vor meiner Eingangstüre, wartet auf dem Parkplatz auf mich. Auch wenn sie sich im Beifuß sitzend tarnt – wie ein Blatt im Wind wippt sie auf und ab – ich sehe sie schon von weitem. Ihre betenden, gefalteten Hände sehen meditativ aus – täuscht aber. In Wirklichkeit sind sie zwei kampfbereite, rasiermesserscharfe, gezahnte Klappmesser, die sie blitzartig ausschnellen kann, um Beute zu fangen – Fangschrecke eben. So verharrt sie Stunden oder tagelang an ein und demselben Ort, bis Beute kommt und sie auf keinen Fall diese Gelegenheit verpassen wird. Habe gelesen, dass Fangschrecken in Südamerika sogar Kolibris fangen, in Afrika gehen sie auf Mäusejagd und auch für die hier vertretene Spezies ist es kein Problem, auch größere Tiere als sie selbst zu jagen. Also eine beharrliche Jägerin. Deshalb sehe ich sie wohl auch öfter bei den Beifuß-Pflanzen verharrend. – Beifuß, die Pflanze der Jägerin Artemis, welche andere Frauen/Jägerinnen um sich schart.

Irgendwo hab ich mal erfahren, dass diese Tiere den Kopf der Männchen nach der Begattung abbeißen würden … stimmt das denn? Auch da habe ich Quellen gefunden, die sagen, dass dies vorkommen könne, muss aber nicht sein. Hier sind sich die Experten aber wohl uneinig.

Auch wenn die Winter bei uns mild sind, sterben die ausgewachsenen Insekten in den kalten Jahreszeiten, die Larven überwintern als Ei-Ablage an den Gräsern. Die Larven werden Nymphen genannt und schlüpfen im nächsten Frühjahr. Was ist denn eigentlich genau eine Nymphe? Auch dies kurzerhand recherchiert – Nymphen gibt es viele, aber auch die Begleiterinnen der Göttin Artemis werden Nymphen genannt. Ahaaaa, da ist sie wieder – die Jägerin Artemis. Diese Gottesanbeterinnen-Nymphen häuten sich über das Jahr ca. sieben Mal. Das Interessante daran: Nach jeder Häutung müssen sie sich für mehrere Stunden aushärten und sind dabei völlig regungslos und vor Fressfeinden nicht sicher. Mir kommt der Gedanke auf, dass dies so auch bei uns Menschen sein könnte: Bei jedem Entwicklungssprung sind auch wir erstmal ganz kurz regungslos, kurz verletzlich und angreifbar, bis wir ausgehärtet sind, um weiter zu marschieren zur nächsten Etappe.

So schön und interessant war der bisherige Kontakt zu dieser unglaublichen Art. In Deutschland auf der roten Liste als gefährdet eingruppiert, genießt sie besonderen Schutz – und fällt somit unter das Bundesnaturschutzgesetz.

Noch schnell zum Jahresende kam dann plötzlich eine Nachricht auf dem Silbertablett präsentiert: Die „unverbaubare Friedhofswiese“ mit ihren vielen Pilzen, Bäumen und interessanten Pflänzlein samt der Europäischen Heuschreckenpopulation wird komplett ausgegraben und ein unterirdischer Tiefgaragen-Superbau wird errichtet. Darauf drei Riesengebäude mit je drei bis fünf Etagen. Alles schon unter Dach und Fach – Ingenieure und Architekten haben alles bis zum letzten Quadratzentimeter ver-/geplant. Für mich war es wichtig, dass die Menschen über die geschützten Tierchen Bescheid wissen sollten. Ich ging zur Bürgermeisterstunde, der große Saal voll mit Menschen und den Bauträgern. Hitzige Diskussionen kamen über die Parkplätze und Co auf. Ganz selbstbewusst meldete ich mich bei den Herren der Stadt zu Wort. – Als ich das Wort ergriff, um auf unsere wundervolle Natur mit der Europäischen Gottesanbeterin aufmerksam zu machen, spürte ich zuerst die Fragezeichen-Wellen der Bewohner und dann absolutes Unverständnis … hier geht’s ja schließlich um Millionen … doof und extrem naiv von mir, mit diesem Thema Natur und Umwelt zu kommen – einfach keine Lobby – bringt kein Geld – kein Nutzen – ist ja ganz nett, aber geschützte Tierarten bringen kein Benefit – Wohnraum ist eben wichtiger – da wird auch das unverbaubare Erweiterungsgelände des Friedhofes mit großer Artenvielfalt kurzerhand doch umgelegt … wenn es auch offensichtlich andere Flächen gäbe. Außerdem entstehen um die lichtdurchfluteten Betonklötze Begrünungsanlagen (auf dem Bild der Präsentation: Rollrasen) … das ist doch extrem schön für die Natur.

Ich habe das Bild des männerschädelabbeißenden Weibchens im Kopf – ohne Begattung! Bin jetzt gespannt auf die folgende Prüfung des Artenschutzes … Fragen zur nicht vorhandenen Tötungshemmung der Schöpfungsethik wandern durch meine Gedanken. C‘est la vie, liebe Gottesanbeterin – du hast mir einige Jahre Wachsamkeit, Geduld und Beharrlichkeit gelehrt. Aber Artemis weiß ihre Nymphen zu führen und ich bin mir sicher, sie werden erfolgreich weiterziehen! Spätestens jetzt bin ich eine Göttinnenanbeterin. – Habt von Herzen Dank, ihr interessanten Geschöpfe!

Autorin: Karin Himmelreich-Rades
Foto: JackieLouDL von Pixabay

Dir gefällt was wir machen… dann bring uns ins Netz. Danke

Facebook
WhatsApp
Email
Pinterest
Twitter
LinkedIn
Telegram

Schreibe einen Kommentar


The reCAPTCHA verification period has expired. Please reload the page.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Christine Kostritza

    Liebe Karin,
    Die Gottesanbeterin im Spannungsfeld von Rollrasen, Artemis und deinem rasiemesserscharfen Mut. Das ist richtig gut. Ich wusste gar nicht, dass die Gottesanbeterinnen auch bei uns heimisch sind. Das ist klug von ihnen und bringt gut getarnte und scharfkantige Medizin mit. Prima.
    Göttinnenanbeterinnen – das Wort fast ein Zungenbrecher. Herrlich.
    Herzliche Grüße an deine Jägerinnen-Seele, Christine 💃💃💃