Alles um mich herum protestiert, nur ich nicht. Dabei bin ich auch wütend. Was ist also dran an meiner Wut? Warum traue ich mich in letzter Zeit immer seltener, meine Meinung zu äußern? Hängt beides vielleicht zusammen? Und was ist die Lösung?
Mut und Wut liegen nahe beieinander. Wer Wut hat, demonstriert. Gegen den Klimawandel, gegen die Wirtschaftspolitik, gegen die Streichung von Agrarsubventionen, gegen den Krieg, gegen Rechtsradikale, gegen Linksradikale … Mittlerweile gehört auch immer mehr Mut dazu, seine Meinung zu äußern, gerade wenn sie nicht dem Mainstream entspricht. Diejenigen, die sich ungeschützt auf die Straße stellen und protestieren, zeigen viel Mut. Bei denjenigen, die mehrere Tonnen Stahl um sich herum und 150 PS unter dem Hintern haben, überwiegt vielleicht eher die Wut.
Aber ich möchte hier gar nicht verurteilen. Außerdem geht es mir ja ähnlich, irgendwie. Ich frage mich, wo mein Mut geblieben ist, zu meiner Meinung zu stehen. Zugegeben, meine Einstellung scheint immer weniger salonfähig zu sein. Wer aus Gründen des Klimaschutzes auf die Urlaubsfliegerei verzichtet, leide unter „Flugscham“, habe ich kürzlich in einer Zeitung gelesen. Ich schäme mich aber gar nicht dafür, nicht zu fliegen. Doch wenn ich meine Gründe darlege, warum ich lieber an den Tegernsee zum Baden radle, anstatt zum viertägigen Yoga-Retreat nach Teneriffa mitzujetten, fällt bei meinen Gesprächspartnern früher oder später das Wort „Ökodiktatur“.
Aus Gründen der Toleranz muss es mir egal sein, wieviele Flugreisen meine Freunde pro Jahr machen. Um es mit ihren Worten zu sagen: Sie sind ja eh alle viel zu kleine Würstchen, deren Handeln nichts bewirkt – im Positiven wie im Negativen.
Also bin ich still. Und reagiere auf ihre Urlaubsankündigungen so, wie sie sich das wünschen: „Oh ja schön, na hoffentlich habt ihr dort besseres Wetter als wir hier, ich wünsche euch eine tolle Zeit und freue mich schon auf die Fotos per WhatsApp!“
Nun ja. Auch aus solchen Kommentaren kann man die Wut raushören oder -lesen, die ich habe. Nicht etwa, weil ich neidisch bin, dass die anderen was dürfen, was ich mir verbiete. Sondern weil die Flugzeuge nun mal nicht nur in die Welt der Vielflieger ihre Abgase hineinblasen, sondern auch in meine Welt.
Meine Wut steigt, wenn dieselben Leute dann bei spirituellen Ritualen vorschlagen: „Lasst uns der Erde zum Abschluss noch viel gute Energie schicken, denn das braucht sie grad ganz dringend.“ Ich glaube nicht daran, dass bloßes Energieschicken der Erde aktuell hilft. Eigentlich geht es ja auch nicht um die Erde, das wäre schon ungewöhnlich selbstlos. Der Menschheit – also uns – müssten wir helfen, die von uns heraufbeschworenen Katastrophen auf der Erde zu überleben. Und den Tieren und Pflanzen, von denen wir leben und die es inzwischen im größten Massenaussterben seit den Dinosauriern vor 66 Millionen Jahren im Eiltempo dahinrafft.
Halt! Ich wollte nicht urteilen, ich will doch eigentlich tolerant sein. Warum eigentlich?
Im jüngsten Buch von zwei meiner Lieblingsautoren, Kai Michel und Carel van Schaik, habe ich entdeckt, warum: In „Mensch sein“ beschreiben sie die Basis, auf der unser Zusammenleben fußt. Drei Naturen in meinem Innern beeinflussen demzufolge, wie ich fühle, denke und handle.
Meine erste Natur entspricht den Jahrtausende alten Erfahrungen aus der Jäger-und-Sammler-Zeit und kann mit „Intuition“ umschrieben werden. Meine Intuition sendet mir Gefühlsregungen wie Liebe, Ekel, Angst und Gerechtigkeitssinn; sie ist in meinen Genen festgeschrieben.
Die zweite Natur entspricht dem, was ich während meines Lebens von meinem kulturellen und sozialen Umfeld lerne: was also hier in Oberbayern Brauch und Sitte ist. Diese beiden Naturen dienen vor allem einem Ziel, nämlich dem Überleben des Menschen in der Gemeinschaft. In der Steinzeit drohte denjenigen, die von ihrer Sippe ausgeschlossen wurden, der Tod.
Meine erste Natur ist also dafür verantwortlich, dass ich es lieber nicht an die große Glocke hänge, wenn ich anders denke oder handle als vermutlich die Mehrheit um mich herum: aus Angst davor, allein dazustehen. Allerdings bin ich in einem Dilemma, denn die Angst vor drohender, existenzieller Gefahr – sprich vor dem Tod – bleibt auch, wenn ich nicht allein dastehe. Klimakatastrophe, wirtschaftliches Desaster, Krieg … die Angst greift gerade von mehreren Seiten nach mir und es ist ihr egal, ob ich in einer Gruppe von Menschen integriert bin oder nicht. Die Angst ist es auch, glaube ich, die es unserer Demokratie aktuell so schwierig macht. Ein bisschen weit hergeholt?
Wer will denn noch diskutieren und höflich anderen Meinungen zuhören, während die drohende Gefahr schon zum Greifen nahe ist! Da handelt man doch lieber, anstatt wertvolle Zeit mit Palavern zu verlieren! Die Bedrohung sieht allerdings jeder Mensch – je nach familiärer Prägung der zweiten Natur – aus einer anderen Richtung kommen: die einen sehen den Krieg, die anderen den persönlichen finanziellen Ruin, die dritten die Masse von Flüchtlingen. Und wieder andere sehen im Klimawandel die größte Bedrohung. Während die einen also nach links rennen, rennen die anderen nach rechts. Dabei kann es leicht mal passieren, dass sie sich gegenseitig die Köpfe einrennen. Andere versuchen nach oben ins Universum zu fliehen, auf dass sich irgendwo da draußen eine zweite Erde auftue.
Kommen wir zur dritten Natur, von der Michel und van Schaik schreiben, dass sie leider die schwächste von allen dreien sei: die Vernunft. Nun gut, sie mag zwar die Schwächste sein. Aber interessanterweise greift sie immer dann, wenn die Strategien von Natur Eins und Natur Zwei mit ihrem Latein am Ende sind. Also jetzt. Ein Hoch auf die Vernunft, lasst sie uns ergreifen! Doch was ist jetzt vernünftig? Das müssen wir vielleicht doch mal kurz besprechen. Gemeinsam. Ohne Wut.
Autorin und Foto: Dagmar Steigenberger
Carel van Schaik, Kai Michel
Mensch sein
Von der Evolution für die Zukunft lernen
Rowohlt Verlag 2022
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