Wasser

Liebeserklärung an ein Element voller Widersprüche

Durst! Ein Bergbach sprudelt am Wegrand über die Felsen, eiskalt ist sein Wasser. Ich trinke es aus meiner Hand, in gierigen, großen Schlucken. Das Wasser gluckert in meine Trinkflasche. Was für ein Glück, dass dieses Wasser hier so rein und kostenlos fließt! Ohne Essen können wir ungefähr 40 Tage überleben, ohne Wasser nur etwa vier Tage. Mehr als die Hälfte meines Körpers besteht aus Wasser; interessanterweise haben wir Frauen durchschnittlich weniger davon als die Männer. Ich wasche den Schweiß vom Gesicht, den Dreck von meinen Händen und fühle mich wieder frisch. So schön sauber, fast wie neu, was für eine Verwandlung! Und doch ist Waschen so alltäglich. Wasser reinigt.

Wasser ist wandelbar. Kein Element ist unter unseren irdischen Bedingungen so vielseitig wie das Wasser. Eis, Wolken, Dampf, Nebel, Regen, Schnee, Meer, Flüsse … alles Wasser. Anders als Feuer, dessen Transformation nicht umkehrbar ist, verwandelt sich Wasser hin und her. Es kann gefrieren und wieder auftauen, zu Dampf werden und in den Himmel aufsteigen, als Regen, Schnee oder Hagel wieder herunterfallen, durch die feinsten Ritzen sickern und sich zu riesigen Meeren sammeln. Ein ewiger Kreislauf, der so flexibel ist, dass er vorwärts genauso wie rückwärts laufen kann.

Wasser ist formbar. Im Bergbach war es noch kantig wie die Steine, die das Bachbett bildeten, in meiner Flasche ist es wie ein Zylinder. Und in mir drin? Vermischt es sich mit meinen Körperflüssigkeiten, passt sich meinen Organen an, transportiert wichtige Stoffe und Mineralien dorthin, wo sie der Körper braucht.

Wasser ist Leben. Sobald die Wissenschaftler auf irgendeinem anderen Himmelskörper Spuren von Wasser finden, feiern sie diese Entdeckung und rufen aufgeregt: Hier könnte Leben entstanden sein!
Ich selber bin ja auch aus dem Wasser geboren. Neun Monate lang bin ich im Fruchtwasser im Bauch meiner Mama herumgeschwommen. Und so sehr, wie ich anschließend das Plantschen geliebt habe, muss es dort unglaublich schön gewesen sein. Auch jetzt noch genieße ich es, schwerelos und ohne viel Mühe, ganz ruhig durch dieses Element zu gleiten, stumm wie ein Fisch. Diese andere Welt unter Wasser. Sie macht nicht nur schwerelos, sie klingt auch anders. Gedämpfter. Nur die Geräusche meines Körpers höre ich viel deutlicher: das Rauschen meines Blutes, das Pulsieren meines Herzens … lässt mich Wasser mehr mein Inneres wahrnehmen?
Ein Freund von mir wäre einmal beinahe ertrunken. Er hatte etwas unter Wasser entdeckt, tauchte danach und verfing sich am Grund in einem Stück Draht. Irgendwie schaffte er es, sich zu befreien und ans Ufer zu kommen. Seit diesem Ereignis vor 25 Jahren begleitet ihn ein pfeifender Tinnitus.
Wenn das Leben nicht dafür vorgesehen ist, im Wasser stattzufinden, kann Wasser töten.

Wasser ist zerstörerisch. Ich erinnere mich an das Gehämmer der Hagelballen vor wenigen Wochen gegen die Windschutzscheiben meines Autos. Wir hatten uns mit hektisch rasenden Scheibenwischern bis zu einer Hausfassade gerettet, die zumindest ein wenig Schutz bot. Meine Tochter heulte vor Angst, ich fürchtete die Gewalt der Geschosse in Golfballgröße und zugleich war ich fasziniert von der Kraft der Natur.
Wasser, diese Ansammlung vieler winziger Tropfen, die einzeln auf dem heißen Stein verdampfen würden oder als kleiner Schluck recht schlapp in der Kurve hängen: Gemeinsam haben diese Tropfen eine Kraft, die alles durchdringt, durchbricht und niederreißt. Zuerst zerschießen die faustgroßen Hagelkörner Häuser, Autos, Tiere und die Obsternte. Später überschwemmt der Dauerregen alles. Dort, wo das Wasser ausbleibt, drohen Dürre, Hungersnöte und Waldbrände.

Und dann ist da noch das Meer, dessen Spiegel stetig steigt, weil die hohen Temperaturen das Eis an den Polen schmelzen lassen. Die Meeresströme verändern sich und damit auch das weltweite Klima. Bleibt der Golfstrom stehen, wird es eiskalt bei uns, trotz steigender globaler Temperaturen. Kann aber auch sein, dass alles anders kommt. Kein noch so schlauer Wissenschaftler kann mit Sicherheit sagen, wie die Meeresströme reagieren werden.

Wasser ist unberechenbar.
Wasser passt in keine Schublade. Wie meine Gefühle. Vielleicht mag ich es deshalb so gern.

Autorin und Fotos: Dagmar Steigenberger

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