Mitten in der Nacht haben sie mit der Bemalung begonnen.
Symbole und Linien bedecken ihre nackten Körper. Kehlige Laute, leise gewisperte Sätze und geheimes Gemurmel begleiten die Verwandlung.
Der Clan der Kriegerinnen bereitet sich vor – die Ur-Schamanin öffnet ihren Schoß im Augenblick der Morgendämmerung. Eine Vision für die kommende Zeit wird von der Nacht in den Tag hinein geboren. An diesem Morgen schafft es die Sonne das erste Mal, ihre Strahlen über den Bergrücken zu schicken. Die dunkle Zeit endet und macht Platz für einen Neubeginn.
Die Kriegerinnen haben die Schattenreiche bereist, sie haben ihr Kriegerinnen-Herz in die weichende Wildnis geschickt, sie haben die Steine gefragt und den Walen gelauscht. Sie haben die geschundene, ausgebeutete und verbrannte Erde betrauert. Dann haben sie beschlossen, der Linearität den Kampf anzusagen. Sie haben die einseitige Geschichtsschreibung geschwärzt und in die Herzen der Frauen goldene Buchstaben geschickt.
Sie haben ein großes Bündel geschnürt – heilende Kräuter, Knochen und Federn, Quellensteine, Salzkristalle aus allen Meeren, Heilgeschichten, Schlangenhäute, Sturmgesänge, wildes Gelächter, Aschesäckchen, Messerscharfes, ungebändigte Lustschreie, Mondgespinste und rote Pfeile.
Sie knüpfen ihre Herzfäden zusammen und schnüren das Bündel mit all der Liebe, die sie haben. Ihr Kampf formt den Kreis, die Trommelhaut wird in den Kreislauf gespannt, bemalt mit uralten Symbolen.
Alle Wesen, die waren, sind und noch kommen werden haben sich um den Ritualplatz der Kriegerinnen versammelt.
Der Ruf der Raben, diesen klugen Boten zwischen den Welten, eröffnet die Zeit des Lichts. Eine große geschmiedete Schale ist die Mitte des Platzes.
Die weiß bemalten Kriegerinnen betreten den Ritualplatz, ihre Trommeln bedecken ihren Schoß. Die älteste Kriegerin umrundet die Schale mit einem Räucherstab, sie bittet um Schutz und bedankt sich bei den dunklen Göttinnen für die verborgenen Geschenke.
Es wird still, jede Kriegerin verbindet sich mit ihren Helferwesen, die Trommeln enthüllen den bemalten Schoßraum jeder Kriegerin. Keine Bemalung gleicht der anderen, wie Schilde weisen sie auf die Einzigartigkeit jeder Kriegerin hin.
Die Morgendämmerung hat ihr neu gewebtes Gewand bereitgelegt, es ist Zeit, die Reise anzutreten. Die Trommeln tönen tief und die Kriegerinnen bitten um Einlass. Das Tor unter der großen Schale öffnet sich – die uralte Schamanin erwartet den Clan der Kriegerinnen. Gemeinsam reisen sie ins Innerste. Ihre nackten Körper erzählen gemalte Geschichten, Körperlandschaften von weißen Linien durchzogen, wie Landkarten. Die gefärbten Falten der Alten sind Heimat und Seelenruf zugleich. Geschmeidig wie ein Luchs tänzeln die jungen Kriegerinnen. Manche schweben, als hätten sie ein Vogelgewand und andere beherrschen die Eindeutigkeit – es ziert sie nur eine einzige Linie. Kriegerinnen, die ihre Wurzeln bei den Närrinnen haben, gehen rückwärts und bannen die Dunkle Zeit mit roter Farbe. Die feinen und leisen Kriegerinnen balancieren auf Klangfäden und die Träumerinnen unter ihnen weben mit jedem Schritt an ihrem Netz. Die neugierigen Kriegerinnen schauen sich unentwegt um, bleiben weit zurück und hüten die Ungeduld. Sternenkundige Kriegerinnen, die mit dem Atemzug des Universums ihre Pfeile ausrichten, gehen voran.
Es wird Zeit, die Morgendämmerung hat bereits ihr fein gewobenes Gewand angelegt und die uralte Heilerin öffnet sich, wie seit ewigen Zeiten. Die Kriegerinnen schließen einen Kreis um die Ur-Schamanin, die Erd-Mutter.
Die Augen sind geschlossen – die Stille ist eine gefüllte Schale – die Morgendämmerung hat ihren Namen gewechselt – die uralte Schamanin schenkt einen dunkelblauen Stein mit goldenen Einschlüssen.
Die Kriegerinnen erleben den Moment vollkommener Einheit. Als sie die Augen öffnen, sehen sie diesen wunderbaren Stein auf dem Platz in ihrer Mitte. Sie erspüren seine Botschaft, jede von ihnen erhält einen feinen Lapislazuli-Faden.
Auf dem Pfad des Neubeginns verlassen sie das Tor unter der Schale.
Und dann ist er da, der erste Sonnenstrahl, der den Bergkamm erhellt, die Kriegerinnen begrüßen ihn mit erhobenen Armen und entfachen durch ihn das Feuer in der Schale. Das Fest beginnt, die Tänzerinnen unter ihnen eröffnen mit feurigen Schritten die Zeit der Helligkeit. Ihr Rhythmus schmiedet das Schild für den Neubeginn.
Die Vision wird noch gehütet, nichts wird darüber gesprochen und nichts wird vorangetrieben.
Die Kriegerinnen haben sie in ihren Schoß gehüllt – der Lapislazuli-Faden wird in ihr Schild gewoben.
Text: Christine Kostritza
Fotos: Die Spinnerinnen
Dir gefällt was wir machen… dann bring uns ins Netz. Danke
Was für ein kraftvolles Ritual! Daraus kann doch nur Großes entstehen!
Hallo Gudula,
Ja es ist eine kraftvolle Geschichte. Sie hatte einen interessanten und intensiven Weg. Sie liegt mir am Herzen und in den Knochen. Ich habe mich sehr gefreut, daß du geschrieben hast. Überhaupt, du hast dich mit deinen vielen feinen Kommentaren wunderbar in unser Magazin gewoben.
Herzlichste Grüße,, Christine
Liebe Christine
Ich liebe Deine Geschichten!
Ich kann beim lesen die Kriegerinnen vor mir sehen…..und ihre Kraft spüren….
Vielen Danke fürs Teilen
Herzensgrüße
Michi
Danke dir Michi,
Ich wünsche dir eine kraftvolle Frühlingszeit und eine Samenkette für die Kriegerin .
Liebe Allgäu-Grüße, Christine