„Steck‘ dir etwas von meinem Laub in deine Taschen. Heute Nacht, wenn die Feuer brennen, reisen wir auf die andere Seite.“ Mit diesen Worten holt die alte Hollerin ihren Kessel hervor.
Seit vielen Jahren begrüßen wir uns jeden Morgen, wenn ich die kleine Kerze anzünde. Mal ist es ein Dank, mal eine Bitte und mal ein vertrauter Blick. Nach einem Herbststurm schenkte sie mir einen kleinen Ast. Es war mir eine Freude, ihn zu bearbeiten.
Zusammen gereist sind wir noch nie. Ich leere die Taschen meiner Jacke und gehe hinaus zur alten Hollerin. Ihr Laub ist kühl und feucht, auch erdig, und manche Blätter sind sogar noch grün. Es gibt ein kurzes Zögern in mir, ein Innehalten und ein Gespannt-Sein, wie es sich wohl anfühlen wird, wenn ich mir damit die Taschen fülle. Erstaunlicherweise werden meine Hände sofort ganz warm und in den Handflächen kribbelt es leicht. Wärme und Ruhe breitet sich aus. Lange stehe ich einfach da. Ich fühlte mich der alten Hollerin noch nie so nahe.
Mit dem Holunderlaub in den Jackentaschen gehe ich zu meiner Räucherschale. Ich möchte sie riechen, diese Blätter. Die meisten glimmen vor sich hin, nur die ganz Trockenen flammen kurz auf. Ich schaue zur alten Hollerin und dann tauchen Bilder auf, die ich so gerne bannen möchte. Ich sehe Frauen vor mir, die den Kampf um ihre Würde mit dem Leben bezahlen. Ich sehe Männer, die in den Krieg gezerrt werden und Familien hinterlassen, die voller Schmerz sind. Überall Ahninnen und Ahnen, die noch keine sein möchten. Meine Tränen fließen.
Trommeltöne entfachen das Feuer. Die alte Hollerin erwartet mich schon, sie sitzt in ihrem Kessel und lädt mich ein, neben ihr Platz zu nehmen. Wir fliegen nach oben, die andere Seite hüllt sich noch in einen dünnen Schleier. Es geht hinauf zu den Sternen, alles wird weit und hell. Warmes Licht führt uns immer weiter. Die alte Hollerin hält inne und hebt den Schleier. Musik erklingt, Klangfolgen, fein und klar, menschliche Wesen, die zu schweben scheinen. Es ist wunderschön. Die alte Hollerin ist mit mir zu den Ahnen der Töne gereist. Sie sind der Beginn jeglicher Form. Sie kennen den Ton von jedem Stein, von jedem Baum, von jedem Tier, von jedem Wort, von jeder Farbe, von jedem Gefühl – einfach von Allem. Ich bin völlig überrascht davon, dass Töne auch Ahnen sind. Und bevor ich weiter nachdenken kann, binden sie mich ein in ihren herrlichen Klangteppich. Ich spüre, wie ich selbst zu einem Ton werde. Es ist mein Ton und er fühlt sich so vertraut an. Die Ahnen der Töne nehmen mich mit auf eine Reise. Wir reisen zum Klang des Neubeginns, zum Klang des Schreckens, zum Klang des Unvorhersehbaren, zum Klang der Träume, zum Klang der Selbstüberschätzung, zum Klang der Wandlung, zum Klang des Chaos, zum Klang der Heilung, zum Klang der Erde, zum Klang des Zweifels und zum Klang der tiefen Verbundenheit mit Allem.
Die Ahnen der Töne haben mich reich beschenkt. Sie haben mir gezeigt, dass auch mein Ton der Beginn einer neuen Form war und ist. Jederzeit.
Die alte Hollerin erwartet mich schon – in ihrem Kessel reisen wir zurück. Ich bin tief bewegt und dankbar.
Heute Nacht singe ich meinen Ton – ins Feuer, in die Dunkelheit, in eine Schale mit Wasser, in den Geruch von Laub und in den Kessel der Hollerin.
Samhain – Ahnenfest der Töne.
Autorin: Christine Kostritza
Schichtbild: Annette Roemer
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