Der Rote Sommerhut
Mitten im Winter heckten sie diesen Plan aus. Erst war es nur ein feiner Gedankenfaden, der sich aus dem nächtlichen Feuer emporschlängelte. Einfach so. Vielleicht weil es jedes Jahr mehr wurden, vielleicht weil sich die Geschichten bereits wiederholten und vielleicht weil sie schon lange wussten, dass es so nicht weitergehen konnte.
Also fingen sie an zu spinnen, plapperten durcheinander, lachten und prusteten wie schon lange nicht mehr. Und dann schauten sie alle nach Süden und sangen ihr Sommerlied – das hatte es noch nie gegeben.
Der Clan der Sommer-Schatz-Hüterinnen war über die Schwelle gegangen, herzklopfend. All die herrlichen Schätze der Sommermädchen wurden von ihnen gehütet und sehr sorgfältig und liebevoll behandelt. Doch diese wunderbaren Schätze häuften sich mehr und mehr an – und wurden vergessen. Der Weg in die Sommerländer war verschüttet.
Die Lage war ernst, das konnten sie sich endlich eingestehen. Allein würden sie es nicht schaffen – die Älteste der Sommer-Schatz-Hüterinnen musste gerufen werden. Noch nie hatten sie im Winter ihre Sommerglöckchen benutzt, doch sie hatten einfach keine andere Wahl. Dann warteten sie, einen ganzen Tag und eine ganze Nacht.
Und plötzlich stand sie vor ihnen!
Wie immer hatte sie ihre grosse, bunte und uralte Reisetasche dabei. Ausgebeult und staubig. Sie hatte schon alle Sommerländer der Welt bereist, auch das Klitzekleinste und sogar die, die es noch gar nicht gab.
Die Älteste der Sommer-Schatz-Hüterinnen setzte sich auf ihren Platz, schaute in die Runde und nickte fast unmerklich mit dem Kopf.
Dann wurde der Plan ausgesprochen, kam in die Welt und es gab kein Zurück mehr. Und schon wurden sie geholt, all die herrlichen Schachteln, Dosen, Bündel, Säckchen, Taschen… gebunden, verziert, geschmückt, geklebt, versiegelt, bemalt… so eine sinnliche Freude. Und alle waren sie gefüllt mit den wunderbarsten Sommerschätzen. Die unbändige Kraft der Sommermädchen, ihre Neugier, ihre spielerische Leichtigkeit, ihre angeborene Klugheit, ihre himmelfliegende Fantasie und ihre Selbstverständlichkeit zwischen den Welten hin und her zu hüpfen, erfüllte den Raum.
Nun sollten die Schätze zurückgebracht werden, denn die Sommerländer wurden immer karger und die Sommermädchen immer leiser. Genau das war ihr kühner Wintertraum.
Die Clan-Älteste erhob sich, klappte ihre Reisetasche auf und holte eine riesige Landkarte heraus. Sie war alles andere als neu, ganz im Gegenteil. An vielen Stellen war sie brüchig, vollgekritzelt, geklebt, genäht und doch, vielleicht sogar deswegen, erfüllte sie die Hüterinnen mit einem prickelnden Lampenfieber.
Die Karte legte sich wie von selbst auf den Boden und der ganze Clan wartete gespannt, was wohl als nächstes passieren würde. Mit ihrem krummen Reisestab flog die Älteste der Sommer-Schatz-Hüterinnen über die Sommerländer und markierte viele Stellen mit unsichtbaren Punkten. Sie murmelte vor sich hin, dann wieder gab sie zischende und bellende Laute von sich. Ihre dunklen Augen bändigten die Furcht und die Hüterinnen spürten, welchen Weg sie wählen mussten, wie ihr Plan gelingen konnte, um die Sommermädchen-Schätze in die Erinnerung zu rufen – sie legten sich neben die alte Karte und schlossen die Augen.
Umhüllt von dem feinen Klang der Sommerglöckchen träumten sie sich entlang der verschlungenen Traumpfade und malten wunderschöne Sommerlandschaften in die Herzen der großen und kleinen Sommermädchen. Die unsichtbaren Punkte begannen mehr und mehr zu leuchten, führten die Hüterinnen seelensicher zu den entlegensten Plätzen und wirklich ALLE Sommerschätze fanden zurück.
Der Sommer zog ins Land – Reisefieber lag in der Luft.
Es wurde eingepackt, umgepackt, wieder ausgepackt, neu gepackt und so manches wurde in allerletzter Sekunde gerade noch rechtzeitig entdeckt. Irgendetwas war anders in diesem Sommer. Eine ganz wunderbar warme Leichtigkeit schwebte übers Land. Flügelleicht.
Jetzt nur noch der Rote Sommerhut – wo war der noch …???
Die Sommerschatz-Schachtel bebt vor Aufregung, die Sommermädchen-Schätze sind alle noch da und beginnen vor Freude zu hüpfen: ein feiner Zopf aus schwarzem Mähnenhaar vom schnellsten Pferd der ganzen Welt, die herrlich schlierige Kirschsaftspucke im Schraubglas, das Zettelchen, das niemand niemals lesen durfte, die silbrig-glänzende Muschel aus fernen Perlmutt-Ländern, viele Plastikflamingos von vielen Eisbechern, ein rostiger Schlüssel, der absolut alles öffnen kann, ein grüner Zauberstein aus den tiefsten Tiefen des Meeres geholt, ein winziger Sandtrichter, der die Zeit anhält, ein wachgeküsstes Seepferdchen, dem man ewige Treue geschworen hat, allerlei Sturmgeschenke, ein Abdruck vom allerleckersten Schokoeis, eine fremde, ganz seltene, nie mehr zu findende weiße Feder, unendlich viele glitzernde bunte Bonbonpapierchen und natürlich das kleine Büchlein mit den geheimsten aller geheimen Geheimnissen drin …
Ein zarter Sonnenstrahl entdeckt die gut behütete Sommermädchen-Schatzschachtel. Es hat geklappt. Der Rote Sommerhut lächelt verschmitzt.
Text: Christine Kostritza
Landkarte: Gerd Altmann
Schichtbild: Annette Roemer
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Da kriege ich grad rote Backen vor Freude!
kirschküsschen!
ReGula
Ohhhh ich liebe das ❣️ was ich hier lese 🥰 Dankeschön ❤️🧡💛💚💙💜💗💖liebe Annette💝
Liebe Christine du entführst mich ins Sommerland, in die längst vergessenen Tiefen der eigenen Schatzkisten, und das ist so unendlich wohltuend in dieser Knorzzeit. Danke für’s Wachküssen der Sommerschatzhüterinnen! Ich bin reich beschenkt.
Oh wie schön und zauberhaft, danke liebe Christine!
… so so soooo schön, berührt mein Herz und meine Gedanken fliegen verträumt durch SommerSonnenFlüstereien … ach, soooo war/ist das … Danke Christine