Im Westen

Wohin gehst du, Carla?“ fragt das Leben.
„Ich muss los.“
Das Leben: „Ja, das sehe ich, nur wohin gehst du?“
„Das weiß ich selbst noch nicht, nur dass ich losmuss.“
Das Leben: „Hast du alles, was du brauchst für dein Unterwegssein?“
„Ja, ich habe mich.“

Carla schaut sich noch einmal kurz um, dann geht sie. Erst ein Stück zu Fuß die Straße runter, dann nimmt sie den Bus bis zum nächsten Bahnhof. Es ist der kleine Bahnhof am Rande ihrer Stadt. Sie wird den Zug Richtung Westen nehmen, das ist das, was sie weiß, seit sie den Ruf zum Gehen gehört hat.

„Nach Westen, bis dass ein Lächeln zu mir kommt und die stillen wohltuenden Tränen“, so war das Bild in Carlas endlosen Nächten. Nächte, in denen sie da lag und sich fragte, wer sie eigentlich ist.

Carla wusste nicht, dass sie Zugfahren mag, jetzt, in dem tönenden Geratter der Schienen vertraut sie sich an. Sich Anvertrauen, das hat sie schon lange nicht mehr, viel lauter waren die Stimmen, die nach Pflichten und „Erfüllung von etwas“ gerufen haben, und ohne Frage, Carla konnte sie bedienen. Früher, als sie jung war, ja, da hat sie sich auf Abenteuer eingelassen, nein gesagt und laut ja gerufen, wenn‘s was gab, was Mut brauchte. Sie hat alles ausprobiert, sich dem Spiel des Lebens gestellt, sich vertraut und manches Mal „scheiß drauf“ gerufen, wenn mal was nicht funktioniert hat und aufs Neue probiert.

Wie alte belebte Orte, wie offene Haustüren, wie beseelte Straßen und blumige Landschaften ziehen die Erinnerungen an Carla vorbei und sie beginnt, sich den verwischten, flüchtigen Erinnerungen hinzugeben. Und während ihre Atmung sich entspannt, werden ihre Augen schläfrig schwer. Angenehm entlastend und wohlig ruhig entspannt sich ihr Denken. Und noch bevor Carla sehen kann, wie das Leben sich zu ihr setzt, fällt sie in einen tiefen, tiefen Traumschlaf.  

Die junge Indianerin steht für Stunden der Statue zugewandt, als würde sie diese immer wieder neu lesen. Als hätte sie noch etwas übersehen, was wichtig sein könnte. Es ist, als könnte sie sich nicht satt sehen und satt hören an den Geschichten der Statue. Hunger, die junge Indianerin fühlt einen unstillbaren Hunger. Es ist nicht das Essen, wonach sie sich sehnt. Es ist auch nicht die Gesellschaft, die sie ersehnt. Es ist nichts, was greifbar wäre, womit sie ihren Hunger stillen könnte. Nein, es ist nicht einmal etwas, was sie mit einem Wort benennen könnte. Es ist ganz viel von dem, was sich in ihr wie nach Hause kommen anfühlt, nach hundert Mal lesen des Pfahls erkennen.

Sie ist erschöpft, nicht erschöpft von zu viel körperlicher Arbeit, wie es sonst, an anderen Tagen schon mal der Fall ist. Nein, die junge Indianerin ist tief in sich drin erschöpft, angenehm erschöpft, befriedigt und satt von dem, was ihr durch das Lesen des Pfahls geschenkt wird.

Sie setzt sich auf den Stein in der Nähe des Pfahls und atmet erst einmal tief und langsam ein und aus.

Und wie sie da so sitzt, merkt sie, wie sich neben ihr weniger ein Geräusch, als mehr so eine Energie entwickelt, sowas wie ein Windchen und als sie sich dem zuwendet, fühlt sie sich eingeladen, es anzusprechen. „Wer bist du?“ Und noch bevor die junge Indianerin ihre Frage stellen kann, antwortet ihr das kleine flinke Wesen: „Ich bin es doch, die Hüterin deiner Träume, erkennst du mich nicht?“
„Doch, jetzt erkenne ich dich, da bist du ja, ich habe dich so vermisst. Du bist da, wieder da!“

„Ja, ich bin da, ich war auch nie weg, bin immer in deiner Nähe, seit uralt langer Zeit. Du konntest mich nicht sehen, warst zu beschäftigt in deiner Zeit. Ich habe das Leben gebeten, dich loszuschicken. Ich habe die Straßen gebeten, dich zu tragen. Ich habe den Westen gebeten, dich zu begleiten, dass du den Zug nimmst. Ich habe den Pfahl gebeten, sich dir in den Weg zu stellen. Ich habe den Stein gebeten, dir einen Platz anzubieten. Ich habe dich erwartet.“

„Als Hüterin der Träume bin ich auch eine Suchende, wie du, und eine Genießerin in der Welt der Farben, der Fabeln und der Geschichten. Neugierig bin ich auf das, was passiert und doppelt so neugierig auf die Nebenwege, da, wo sich das, was sein will, erst einmal findet, sich verabredet, sich ausprobiert. Ich bin eine Hungrige, genau wie du, junge Indianerin und ich liebe es, Gefühle zu erleben, ich mag es, ein Blau für ein Gelb zu halten, Dinge auf den Kopf zu stellen, dass sichtbar wird, was wirklich in ihnen steckt. Einfach nur lauschen, Perspektiven verdrehen, Winkel ab und aufrunden. Ich liebe das schnelle Denken und ich schenke dir dein Langsam, dass du Zeit hast, dich zu entdecken. Ich verschenke mich an dich, denn durch dich komme ich in mein Leben.“

Carla hält sich die Ohren zu, das Quietschen der Bremsen hat sie grob geweckt. Sie steht auf, geht den Gang entlang, die Tür des Zuges öffnet sich automatisch. Sie geht den Weg runter, nimmt den Bus für zwei Stationen, steigt aus. Es sind nur knapp hundert Meter bis zu ihrer Haustür.

Zuhause im Westen.

Autorin: Christiane Holsten
Bild: Christiane Holsten

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