Brief an Ingrid Noll

Sehr geehrte Frau Noll,

kürzlich ist uns Ihr jüngster Roman „Tea Time“ in die Hände gefallen, in dem Sie uns Spinnerinnen zu den Hauptfiguren erkoren haben. Herzlichen Dank, das rührt uns sehr!

Vor längerer Zeit erlangten schon einmal drei von uns eine ähnliche Berühmtheit. Dem Autoren-Duo (übrigens auch Bestseller-Autoren wie Sie) sind sie vermutlich durch ihre kleinen Schönheitsfehler aufgefallen: dicke Lippe, Riesen-Daumen und Platschfuß. Sie wissen ja, Marotten und Macken machen Figuren erst interessant. Nun, mittlerweile haben wir es aus der Märchenwelt heraus geschafft, sind wohlbehalten in der Realität angekommen, vernetzen spirituelle Frauen über den ganzen deutschsprachigen Raum hinweg … und dürfen uns jetzt dank Ihnen sogar im Krimi-Genre wieder entdecken.

Noch rätseln wir allerdings, welche unter uns Sie mit den sechs Damen aus dem „Klub der Spinnerinnen“ meinen. Eine, die manisch Teppichfransen zurecht kämmt? Wenn bei uns eine nervös am Teppich zupft, dann nur weil er gerade nicht ordentlich fliegen will. Eine andere, die Unkräuter fotografiert? Stark untertrieben! Die Spinnerinnen bei uns fotografieren Unkräuter nicht nur, sie malen, essen und verräuchern sie oder waschen sich sogar mit den Essenzen daraus. Vergiftet haben wir allerdings noch niemanden damit. Auch als Einbrecherin hat sich noch keine von uns betätigt. Die Unkräuter-Fotografin, von der Sie schreiben, will ihre Füße nicht unter der Bettdecke heraushängen lassen aus Angst davor, dass sie ihr dann abgehackt werden könnten. Liebe Ingrid Noll, da haben Sie aber schlecht recherchiert! Vor so etwas zuckt nun wirklich keine Spinnerin zurück: Schamanische Zerstückelungen sind bei uns an der Tagesordnung.

Also, für Sie zur Info, wenn Sie mal wieder vorhaben sollten, ein Buch über die Spinnerinnen zu schreiben (was uns natürlich sehr freuen würde): Da gibt es die Oberspinne mit einer Vorliebe für Wollmäuse, die sie zu herrlichen Krafttierdecken filzt. Dann wie gesagt etliche, die mit Pflanzen experimentieren und sich für das interessieren, was auf der Erde kreucht und fleucht. Ein paar andere wiederum schauen genau in die andere Richtung und lesen – nicht aus den Wolken, wie Sie schreiben, sondern ganz schnöde aus den Sternen. Außerdem finden sich sehr viele kunst- und handwerkliche Talente in unseren Reihen: Malerinnen, Keramikerinnen, Rassel- und Trommelbauerinnen, Dichterinnen, Jodlerinnen …

Was uns eint: Fast alle haben wir eine außergewöhnliche Reiselust, wobei wir sehr achtsam sind: Wir hinterlassen weder Fingerabdrücke noch ökologische Fußabdrücke, denn die Natur liegt uns ausgesprochen am Herzen. Auf unseren Reisen verzichten wir komplett auf Auto, Bahn, Flugzeug … also auf jegliche emissionierenden Fortbewegungsmittel. Als Gepäck haben wir höchstens eine Trommel und ein paar Tiere wie Tiger, Bär oder Hirsch dabei. Unsere Lieblingsziele sind die Anderswelt, das Weltall und (das könnte Sie als Krimi-Autorin interessieren) die Unterwelt.

Falls Sie noch mehr Inspiration wünschen, schauen Sie doch einfach mal auf www.spinnerinnen.ch unter „Frauenfäden“ nach originellen Damen! Ach so, einen Mann haben wir übrigens auch in unseren Reihen. Und den wollen wir wahrlich NICHT um die Ecke bringen, so wie Sie es uns in Ihrem neuen Roman unterstellen. Im Gegenteil, wir sind dankbar dafür, ihn als Lektor zu haben. Denn schreiben tun wir übrigens auch, nicht nur in unserem Online-Magazin: Lesen Sie mal unser aktuelles Buch „Die Geschichtensammlerin“! Und wer weiß, vielleicht widmen wir ja in unserem nächsten Band ein Kapitel Ihnen …

Herzlich grüßen Sie
die Spinner:innen

Autorin: Dagmar Steigenberger

Hörbuch-Kritik gefunden vom Mann einer der Spinnerinnen in der Wochenend-Ausgabe des Münchner Merkur am 11. Februar 23

Ingrid Noll, geboren 1935 in Shanghai, ist eine der erfolgreichsten deutschen Krimi-Autoren der Gegenwart.

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