Wie vom Blitz getroffen bleibt sie plötzlich stehen. Sie schaut dem wunderschönen Prinzen in seine wunderschönen Augen. Dann macht sie mit ihren perfekt passenden Highheels eine märchenhafte 180°- Drehung und läuft schnurstracks aus dem Ballsaal. Das Herz klopft ihr bis zum Hals – auf keinen Fall darf sie sich umdrehen. Sie hastet weiter. Auf der Treppe liegt eine Tube Klebstoff. Kann nicht schaden. Sie steckt sie ins Dekolleté.
Sie muss schnellstens zurück in das alte, aufgeklappte Märchenbuch, bevor umgeblättert wird. Wieso hat sie die Zusammenhänge nicht längst schon kapiert? Nur sie allein kann ihre Geschichte neu schreiben und zugleich hat sie überhaupt keine Ahnung, wie das gehen soll. Sie hastet weiter.
Geschafft – alles ist noch da. Die Linsen, die Erbsen und die Asche. Wild entschlossen fegt sie das Ganze zu einem Haufen zusammen. Nur nicht nachdenken, nur nicht innehalten. Sie traut ihrem so glasklaren Impuls nicht über den Weg.
Jetzt noch der Klebstoff. Irgendwie muss der Haufen ja Halt bekommen. Es klappt, die Tube ist leer. Dann setzt sie sich auf den Erbsen-Linsen-Aschehaufen und atmet erst einmal tief durch. Das alte Märchenbuch ist fast schon entzückt.
Nein, sie braucht kein zuverlässiges Taubengeschwader, sie will nicht mehr panisch die 3 Nüsse suchen, sie holt nicht mehr die Linsen, geschweige denn die Erbsen für andere aus der Asche, sie überlässt ihr Schicksal nicht mehr ihren Erlösungsträumen, sie wartet nicht mehr darauf, dass andere endlich ihre wahre Natur erkennen und sie gibt den Prinzen nicht mehr die Schuld dafür, dass sie nicht in ihre Kraft kommt. Andersrum wird nämlich ein Schuh daraus!
Und jetzt? Sie hat überhaupt keinen Plan. Nicht mal einen allerkleinsten Schimmer. Die Furcht lässt nicht lange auf sich warten, der Mut rollt sich zusammen, das Ballkleid klebt inzwischen am Erbsen-Linsen-Aschehaufen fest.
Klebepunkt = Wendepunkt.
Die Geschichte schreibt sich um, wie von selbst. Eine unerwartete Leichtigkeit erfüllt den Raum. Frühlingszauber?
Die verstümmelten Füße der Stiefschwestern beginnen zu heilen.
Der Prinz hat seinen Faden verloren – endlich.
Die alte Haselmutter fliegt vorbei und ruft: „Ich danke Dir von Herzen! Endlich bin ich frei!“
Rucke di gu Rucke di gu
Ich habe bunte Flügel am Schuh
Dann ist es so weit.
Sie streift ab, was nicht zu ihr gehört, und erhebt sich.
Pfeifend und vor sich hin trällernd verabschiedet sie sich von ihrem Erbsen-Linsen-Aschehaufen. Leichtfüßig tanzt sie hinein – in diesen herrlichen Frühlingsmorgen. Der Allererste in ihrer neuen Geschichte. Und sie hat überhaupt keinen Plan – perfekt!
Autorin: Christine Kostritza
Foto: Espressolia auf Pixabay
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Dieser Artikel rettet mir den Tag, denn ich habe auch überhaupt keinen Plan im Moment und habe mich deshalb total schlecht gefühlt. Ich weiß was ich alles nicht mehr will, ich habe Wünsche, komme aber nicht in die Umsetzung aus Angst den “sicheren Hafen” zu verlassen. Aber wenn “Aschenputtel” auch keinen Plan hat und trotzdem in den Frühling tanzt, ist das enorm tröstlich für mich! Ich vertraue nun einfach dem Prozess und erwarte geduldig was kommen mag. Herzlichen Dank dafür!
Liebe Nadja, es in der Tat schwierig im “Dazwischen” zu sein. Und es freut mich, wenn dir “Aschenputtel” Mut macht. Ich wünsche Dir einen wunderbaren, freien, planlosen und sehr heiteren Tanz in den Frühling.
Liebe Frühlingsgrüße Christine 💃💃💃