Zum Totentag

Herbstwind flüstert, die letzten wärmenden Strahlen der Sonne, so wie damals.

Ich war schon lange nicht mehr am Grab, «zu lange», sagt eine Stimme, «es hat alles seine Richtigkeit», sagt die andere.
Erinnerungen an damals, an all die verwahrlosten Kindergräber, die mir beinahe das Herz gebrochen haben. Wie kann es sein, dass liebende Mütter, liebende Eltern die Gräber ihrer Kinder so verkommen lassen.

Gerade weiss ich nicht, wie dein Grab ausschaut, ich war schon lange nicht mehr da. Bald 16 Jahre ist es her und ich beginne zu verstehen; den Lauf der Zeit, Zeit und Heilung.
Ich verurteile diese Eltern nicht mehr … ich war schon lange nicht mehr da. Würde ich dein Grab für dich pflegen oder für andere, damit die bloss nicht denken, dass ich dich vergessen hab?

Ich muss niemandem zeigen, dass ich dich nicht vergessen hab, ich weiss es jeden Tag, wenn du durch meine Gedanken schleichst, mich besuchst, kurze Dolchstösse mit dem Herbstwind, zuweilen regelrechte Schwerthiebe. Sehnsucht, Schmerz und Liebe, die nie vergehen werden. Wir zwei wissen das.

Was Andere denken, ist egal.

Trauer ist anders, immer.

Es gibt keinen anderen Moment, in dem es falscher ist, es anderen recht machen zu wollen, Erwartungen erfüllen zu wollen, als bei der Trauer. Ich allein weiss, wie ich trauere und ich alleine weiss, was ich brauche und was ich ganz bestimmt nicht brauche. Und gerade damals, in der tiefsten Trauer, habe ich mir das Recht genommen, es jedem unverblümt an den Kopf zu schmeissen. Und diese Erfahrung gebe ich gerne weiter:

In der akuten Trauer bist DU am Trauern, du musst keine Rücksicht auf Menschen nehmen oder gar Menschen entschuldigen, die (sau-)dumme Sachen sagen, bloss weil sie sich hilflos fühlen, es liegt nicht an dir, Rücksicht zu nehmen.

Geh – und schütze deine verletzte Seele. Du bist niemandem verpflichtet, du musst dich niemandem erklären oder dich rechtfertigen. Das Einzige, was ich mir für dich wünsche, ist, dass du in dich hineinhorchst und dir zutiefst vertraust.

Darauf vertraust, dass du genau weisst, was du brauchst, dass du spürst, was für dich das Richtige ist. Weisst, dass du eine Kraft in dir trägst, von der du bis jetzt vielleicht noch gar nichts wusstest, eine Kraft, die dich tragen wird, auch wenn du zuweilen vielleicht denkst, dass du an dem Schmerz sterben wirst.

Vertraue dir, vertraue deinem Wissen, vertraue deiner Kraft.

Und vertraue dem Lauf der Zeit.

Autorin und Foto: Lina Engler

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