Lass dich ein …

Herr Pfifferling

Ich durfte mal wieder nach Finnland gehen, das Land, das einen Teil meines Blutes ausmacht, das Land, in dem die andere Hälfte meines Herzens wohnt.
Ich landete wieder in «meiner» Hütte im Wald, umgeben von Preiselbeeren, Birken, Moos und Heidelbeeren, der Milchstrasse in klaren Nächten, sich spiegelnden Sternen im stillen See; in der Ferne das Heulen der Wölfe und das Geschrei aufgeschreckter Kraniche.

Mein Herzensheim, welches eigentlich «Haus des Windes» heisst (was ich zufällig erfahren habe und was mein Windtochterherz natürlich erst recht springen lässt) hat auch ein Klo. Wer finnische «Mökki» kennt, der weiss, dass es da selten «normale» Klos gibt. Meist ist es ein Plumpsklo, ein paar Meter vom Haus entfernt und oft mit herrlicher Aussicht. Das Klo im Windhaus ist besonders schön. Wenn man die Tür offenlässt, guckt man direkt in den Wald und je nach Sitzposition bis zum See.
Auf diesem Klo begann letztes Jahr meine lehrreiche Liebesgeschichte mit Herrn Pfifferling.

Am zweiten Tag meines Aufenthaltes sass ich da und bewunderte pinkelnd die Aussicht, als ich plötzlich eine laute Stimme hörte.
 «Geh raus, den Waldweg entlang, biege beim grossen bemoosten Stein im Birkenwäldchen rechts ab und geh geradeaus.»
Ich höre öfter mal Stimmen, und wie eine Freundin, die lange auf der Forensik gearbeitet hat, einmal meinte: «Lina, solange du dich sorgst, ob in deinem Kopf alles gut ist, ist alles gut. Wenn es nicht mehr gut wäre, würdest du’s nicht merken.»
Daran klammere ich mich immer, wenn mal wieder irgendwelche Stimmen auftauchen.

Ich ging also den Waldweg entlang, bog beim grossen bemoosten Stein ein und befand mich kurz darauf in einem zauberhaften lichten Waldstück mit Birken und Farnen und mittendrin – tausenden kleinen Sonnen gleich – leuchteten grosse Pfifferlinge.

Meine Freude war riesig. Von diesem Moment an war Herr Pfifferling ein treuer Begleiter durch diese Tage. Er zeigte mir die Leichtigkeit des Spiels zu einem Zeitpunkt, in dem ich diese Leichtigkeit dringend gebraucht habe.
Wir spielten vor einem Jahr und spielten auch heute wieder. Herr Pfifferling gibt mir Impulse und ich folge ihm, leicht, vertrauend und neugierig. Falle wie ein Kind durch das hohe Moos, klettere auf Bäume und bin gespannt, was Herr Pfifferling mir zeigen wird.
Ich folge den Fährten, die er mir sendet, setze mich hin, lausche, was er und seine Freunde zu erzählen haben und renne «ziellos» durch den Wald. Mich voll des Vertrauens einlassend, wissend, dass Herr Pfifferling mich bisher noch jedes Mal sicher wieder aus dem Wald geleitet hat – trotz der erheblichen Gefahr, sich in den Weiten der finnischen Wälder zu verirren und trotz meines naturgegebenen Talentes, zielstrebig im Kreis zu rennen.

Nebst der Leichtigkeit und dem Vertrauen hat mich Herr Pfifferling vor einem Jahr auch wieder dem (ollen Dauer-)Thema des Loslassens nähergebracht.

In einer Nacht wurde es sehr kalt. Das Feuer knisterte, der Wind trug das Heulen der Wölfe zu mir, und am nächsten Tag zeigte sich, dass vielen Pfifferlingen die Kälte nicht gutgetan hatte. Herr Pfifferling aber summte nur: «Es ist der Lauf der Zeit, alles vergeht und kommt wieder, in neuer Form, Altes vergeht, Neues kommt … Leichtigkeit und Akzeptanz. Versuche nicht, das Alte festzuhalten, versuche nicht zurückzugehen. Was war, war, akzeptiere, vertraue. – Lass dich ein auf das unerwartete Spiel des Lebens.»

Vor einem Jahr, als er mir diese Worte gesagt hat, ging es mir sehr schlecht und der Gedanke, nicht zu wissen, wann ich wieder nach Finnland gehen kann, hat mir beinahe zusätzlich mein Herz gebrochen.
Heute, ein Jahr später, komme ich gerade aus Finnland zurück und plane meinen nächsten Aufenthalt. Es steht im Raum, ein Häuschen da zu kaufen und ich habe die Möglichkeit, jederzeit zu einer Freundin zu gehen. Ich bin nicht mehr dieselbe.

Ich bin zurück im unerwarteten Spiel des Lebens.

«Lass dich ein auf das unerwartete Spiel des Lebens.»

Und um den Bogen zu den Klos wieder zu spannen: Alles vergeht – auch Scheisszeiten.

Autorin und Fotos: Lina Engler

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Michèle

    Liebe Lina, du schreibst und ich fühle mich reinversetzt in deine Landschaft, wo die Hälfte deines Herzens wohnt und den Duft und die Farben einsaugt und sich darin zuhause fühlt.
    Danke fürs „vom Vertrauen und Lebensfluss“ erzählen! Herbstgrüsse meines Herzens Michèle