Im Kopfstand

Eine Annäherung ans stehende Volk

Beim Ernten der Heilkräuter hat Dagmar Steigenberger ihren Verwandtschaftsverhältnissen mit Pflanzen nachgespürt.

Pflanzen sind so anders als wir Menschen. Komplett andere Lebewesen! Meiner Tochter habe ich am Anfang kaum beibringen können, dass sie überhaupt Lebewesen sind. Sie schreien nicht „Autsch“, wenn man sie abrupft. Sie laufen auch nicht davon oder hauen zurück, wenn man auf ihnen herumtrampelt. Nein, im Gegenteil, sie verströmen dann nur umso intensiver ihren herrlichen Duft. Mittlerweile glaube ich, dass die Pflanzen uns mit ihren Düften mehr als nur ihre Attraktivität mitteilen wollen. Nämlich: „Pass doch auf, hier bin ich!“ oder im warmen Sommerwald „Alarm! Es ist zu trocken, helft uns!“

„Das stehende Volk“ nennen die indigenen Stämme die Bäume. Pflanzen sind an einen Ort gebunden, können nicht einfach woanders hingehen, wenn es ihnen zu bunt, zu laut, zu dreckig oder zu stickig wird. Das ist etwas, was ich beinahe am meisten an ihnen bewundere: Sie wissen, wie man auf stoische Weise mit Stress zurechtkommt. Sie stehen an den unwirtlichsten Orten und überleben, ja wachsen und gedeihen dort, wo ich den dringenden Impuls habe davonzulaufen. In der Großstadt, eingekeilt zwischen Asphalt und Betonblöcken. Am Rand einer viel befahrenen Straße, ihre Blüten und Blätter im Wind der Abgase wippend.

Gut, an solchen Orten pflücke ich nun wahrlich keine Pflanzen, die mich heilen und nähren sollen. Auch wenn sie das im Notfall eigentlich könnten, diese Überlebenskünstler! Denn die Stoffe, die uns helfen und heilen, produzieren die Pflanzen ja nicht aus reiner Selbstlosigkeit nur für uns. Sondern eigentlich, um sich selbst zu helfen und zu heilen. Im Frühling produzieren sie beispielsweise viel Kalium, was sie für die Photosynthese und damit für schnelles Wachstum brauchen. Danach fahren sie ihre Antioxidantien hoch, die sie vor Schäden infolge der zunehmenden UV-Strahlung schützen. Im Hochsommer helfen Phenole gegen Fressfeinde und Vitamin C gegen Stress wie Trockenheit oder hohe Ozonbelastung. Und wenn es dem Herbst entgegen geht, produzieren sie am meisten Kalzium und Magnesium, weil sie dann ihre Zellwände stabilisieren müssen, um für die ersten Fröste gewappnet zu sein.

Beim Ernten, wenn die höheren Ebenen meines Verstandes ausgeschaltet sind, wenn ich meditativ vor mich hin pflücke, rieche, schmecke und taste, dann kann ich die Pflanzen „spüren“. Nicht ihre spezifischen Heilwirkungen, das schaffe ich nicht, ich bin keine Hildegard von Bingen und auch kein Doktor Bach. Aber ich spüre dann so etwas wie Verwandtschaft, obwohl unsere Arten zu existieren doch so verschieden sind.

Meine fünf Finger berühren ihre fünf Blütenblätter, ihre fünffingrigen, grünen Blätter und begrüßen sie. Die Fünf kommt so oft vor bei den Pflanzen, dass ich nicht anders kann, als in diesen Blättern ihre Finger und Zehen zu vermuten, während ihre Stängel, Stämme und Zweige wie Arme und Beine sind. Wenn ich in ihr Fleisch schneide und ihr Saft herausrinnt, dann erinnert mich das an mein Blut. Beim Löwenzahn erscheint es in dickem Weiß, beim Schöllkraut in leuchtendem Orange, bei den Bäumen als goldgelbes Harz. Die wunderschönen Blütenkelche sind ihre Geschlechtsorgane, die Bienen, Fliegen und Falter ihre Sexdiener, die Samen und Früchte ihre Kinder …

Ihre Wurzeln, diese weißen bis gelborangefarbenen Gebilde, mal viel verzweigt, mal tief in den Boden bohrend, aber immer mit feinen Haaren dran, die weit reichen und oft mit anderen Nachbarn verflochten sind … Wenn ich sie ausgrabe, kommt es mir so vor, als seien die Wurzeln die Nervenbahnen der Pflanzen, der zentrale Strang ihr Gehirn. Ihr Gedächtnis- und Kommunikationsorgan, in dem all ihre Weisheiten gespeichert sind.

Wozu wir die Luft brauchen, das schaffen die Pflanzen in der Erde. Kilometerweit reichen sie über ihre Wurzeln Botschaften weiter, und das trotz des zähen, unbeweglichen Bodens in Windeseile. Von wegen Erde ist ein träges Element!

Das stehende Volk. Wenn ich in den Kopfstand gehe, stehe ich ein bisschen wie sie. Nicht so fest verwurzelt, leider … ach, das würde ich mir wünschen, nur auf meine Beweglichkeit möchte ich ja auch nicht verzichten … Aber vielleicht wächst dann ein heilendes Gegenmittel in mir. Eines, mit dem ich auch mal ganz gelassen stehen bleiben kann in Situationen, in denen ich sonst schreiend davongelaufen wäre.

Autorin: Dagmar Steigenberger
Foto: Dagmar Steigenberger

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. petra

    oh, so fein beschrieben, berührend, danke! und so spannend mit den wechselnden inhaltsstoffen.