Die nicht auf 13 zählen kann

Die nicht auf 13 zählen kann schreckt hoch!

Schon wieder dieser Traum vom Schnee, schon wieder steckt sie in ihm fest, schon wieder kommt sie nicht voran!

Am liebsten würde sie in ein Land ziehen, in dem es niemals schneit und noch wichtiger, in dem es die Zahl 13 nicht gibt. Seit sie zählen kann klappt es nicht – es geht munter bis 12 und dann geht es los: stottern, Schluckauf, Hustenanfälle, Ohrensausen, weiche Knie, und wenn es ganz schlimm wird fällt sie in Ohnmacht.

Sie hat probiert, rückwärts zu zählen, dabei zu springen, ganz, ganz langsam zu sprechen, zu reimen, zu singen… Nichts, aber auch wirklich NICHTS hat geklappt. Bei 14 ist der Spuk dann wieder vorbei und diese störrische 13 hat sich in Luft aufgelöst. Als wäre sie nie da gewesen, als wäre sie ein Kinderspiel, als wäre es das Normalste von der Welt, dass sie haargenau zwischen der 12 und der 14 platziert ist.

Die nicht auf 13 zählen kann ist schon ihr ganzes Leben lang bestimmt von diesem Makel, obwohl es fast niemanden auffällt, geschweige denn, dass jemand davon weiß.

Trotzdem, Die nicht auf 13 zählen kann ist gefangen in einem Gespinst aus Lügengeschichten, Tricksereien, Fluchtplänen und diesem grausamen Gefühl, dass sie NIE dazugehören wird, NIE!

Gruppen meidet sie so gut es geht – das klappt leider nicht immer und dann wird es ganz schnell eng, sie ist wie eingewoben in ihre Angst, dass ES rauskommt.

Sie sehnt sich danach, eine ganz normale, stinknormale Frau zu sein – eine die zufrieden ist, ihre Wünsche und Sehnsüchte im Alltäglichen findet, ihren Kindern die Geschichte von der 13. Fee mühelos vorlesen und sogar Marmelade für 13 Gläser einkochen kann. Auch ein 13. Stück Kuchen wäre überhaupt kein Problem mehr.

Aber nein, sie steckt fest, im Schnee, im Leben, in Allem!

Die nicht auf 13 zählen kann war schon als Kind irgendwie anders. „Du bist eine Träumerin“, sagte ihre Mutter kopfschüttelnd, wenn sie mal wieder, statt aufzuräumen aus dem Fenster schaute und den Wolken Namen gab oder mit den Vögeln weit weg flog.

Das ist ihr bis heute geblieben, allen Anstrengungen zum Trotz, sie liebt die Vögel und die Wolken. Jetzt wäre sie gerne ein Vogel mit großen Flügeln und dann würde sie dahingleiten, mit dem Wind spielen, die 13 mit ihren Flügelspitzen in den Himmel malen.

Die nicht auf 13 zählen kann nimmt ihren Mantel vom Haken, steckt ein paar Nüsse in ihre Manteltaschen und macht sich auf zu ihrem Lieblingsplatz, einer kleinen Lichtung, gut versteckt im nahen Wald.

Hier fühlt sie sich frei, hier kennt sie sich aus, hier hat sie den Bäumen schon so vieles anvertraut, hier kann sie die Jahreszeiten riechen und hier ist sie vollkommen sicher. Schon beim Betreten des Waldes spürt sie, dass heute irgendetwas anders ist. Ein warmer Wind streicht durch die Bäume, die Gerüche des Waldes und der Gesang der Vögel wirken viel intensiver. Die Lichtung – ihre Lichtung – ist in goldenes Sonnenlicht gehüllt. Sie legt die Nüsse, bis auf eine, an einen weichen Platz aus frischgrünem Moos. Warum sie immer eine Nuss in ihrer Manteltasche zurück behält, weiß sie selbst nicht so genau. Vielleicht hat es mit ihrer Kindheit zu tun, die durchwoben war von magischen Regeln.

Ein Vogel schreit über ihr, ein scharfer kurzer Laut – ohne nach oben zu schauen weiß sie, dass es ein Falke ist. Im Herbst hat sie ihn zum letzten Mal gesehen und nun ist er wieder zurück! Ihr Herz hüpft freudig und leicht.

Die nicht auf 13 zählen kann legt sich auf die herrlich duftende, warme Erde und schaut in den Himmel. Sie beobachtet den Falken, seine pfeilschnellen Sturzflüge, seine wilden Flugkapriolen und träumt davon, mit ihm mitzufliegen. Sie möchte ihn fragen, was er alles erlebt hat im Süden, was er gesehen hat und wie es sich anfühlt, mit dem Wind zu tanzen. Der Falke fliegt langsam näher, seine Kreise werden enger und sie kann schon sein Federkleid genau betrachten, die einzelnen Federn erkennen. Ein sanftes Kribbeln durchströmt ihren Körper. Die nicht auf 13 zählen kann fühlt sich auf einmal so leicht, so wunderbar leicht. Der Falke kommt immer näher, bleibt genau über ihr in der Luft stehen. Seine Augen funkeln, sein goldgelber Augenring leuchtet wie ein warmes Feuer und dann geschieht es – Die nicht auf 13 zählen kann taucht ein in diesen goldgelben Augenring und fliegt mit dem Falken in den Himmel, einfach so. Sie sitzt auf seinem Rücken und spürt den kraftvollen Herzschlag des Falken, der sich mit ihrem eigenen verwebt.

In weiten Kreisen geht es immer höher, sie durchfliegen Schichten und Räume, der Wind wird zum fliegenden Teppich. Es ist atemberaubend schön und mit zunehmender Höhe bekommt Die nicht auf 13 zählen kann es dann doch mit der Angst zu tun. Weiß der Falke denn, wo er hin will? Sie beginnt sich zu fürchten, in ihren Ohren klingelt und rauscht es. Der Falke spürt ihre Furcht in seinem Gefieder. „Hole die Nuss aus deiner Manteltasche und halte sie fest!“ Woher weiß er von ihrer Nuss und warum fühlt sich diese plötzlich so ganz anders an? Kühl und glatt, sie wagt nicht hinzuschauen. Kaum hat sie die Nuss, die keine mehr ist, in der Hand, verschwindet ihre Furcht.

Ihr Körper strafft sich und eine seltsame Aufgeregtheit erfasst sie.

 Der Wind wird sanfter und der Falke landet weich in einer Landschaft von großer Weite und Schönheit. Eine hochgewachsene Frau in wehenden weißen Kleidern begrüßt sie. Ihre Augen und ihre Nase haben etwas von einem Vogel und ihre Stimme fühlt sich an wie ein warmes, zutiefst vertrautes Lied.

„Schön, dass du da bist und dich meinem Falken anvertraut hast. Du hast eine lange Reise hinter dir. Ich weiß, dass es nicht immer einfach für dich war und doch hast du die ganze Zeit den Stein in deiner Manteltasche gehütet.“ Die nicht bis 13 zählen kann schaut sie verwundert an und holt die vermeintliche Nuss aus ihrer Tasche. Sie öffnet gespannt ihre Hand – ein Bergkristall, klar und durchscheinend, wie aus Eis gemacht, leuchtet ihr entgegen.  Wunderschön ist er – ins Licht gehalten schimmern goldene und silberne Einschlüsse in seinem Inneren. Eine große Klarheit geht von ihm aus und zugleich ist es, als würde ein hauchzartes Wesen dem Stein seine Kraft geben.  Die weiße Vogelfrau, so nennt sie sie jetzt, tritt leise neben Die nicht auf 13 zählen kann:

„Komm mit, es ist höchste Zeit!“ Und führt sie mit diesen Worten in die große weite Landschaft, zu einem Steinkreis. Die nicht auf 13 zählen kann sieht es sofort – ein Stein fehlt! Sie erstarrt und bleibt wie angewurzelt stehen – es ist der 13.Stein, der fehlt!

Im Bruchteil einer Sekunde versteht sie das ganze Gefüge: die 13, den Falken, die Nuss, ihre Anstrengungen und ihre Träume.

Alles, was sie je gedacht, festgehalten, vergessen, geliebt, erhofft, verschwiegen, erträumt, gelernt und geglaubt hat, wirbelt durcheinander. Ein inneres Taumeln nimmt von ihr Besitz und sie fühlt sich einer Ohnmacht nahe.

Von weit her hört sie die klare Stimme der Vogelfrau: „Wir brauchen deinen 13. Stein nötiger denn je. In ihm wohnt das Ende und der Anfang. Das große Mysterium vom Sterben und Wiedergeboren-Werden geht verloren, wenn wir den Kreis nicht schließen. Und damit das Wissen um die Kraft des Neubeginns.“

Wie in Trance geht Die nicht mehr weiß wie sie heißt in das Innere des Kreises.  Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Die Vogelfrau tritt hinter sie und legt behutsam ihre Arme auf die Schultern der Frau, die ihren Tränen freien Lauf lässt und, ohne es zu wissen, ihre Schattenräume damit dem Wandel anvertraut. Dann wird es still, nur der ruhiger werdende Atem erfüllt den Steinkreis.

Sie nimmt den Bergkristall, legt ihn an seinen Platz und schließt den Kreis!

Text & Keramik: Christine Kostritza
Schichtbilder: Annette Roemer

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Dieser Beitrag hat 7 Kommentare

  1. Michaela Kostritza

    Wunderschöne Geschichte, liebe Christine, und so toll erzählt!!! Du bist ja eine richtige Dichterin geworden!
    Find‘ ich sehr schön und gut!
    LG, Michaela

    1. Christine

      Vielen Dank, Michaela !
      Ja, der Raum der Geschichten und Worte überrascht mich selber immer wieder. Seit ich nicht mehr arbeite, geht die Qualität von Dialog in eigene Bereiche und das wie ein Neuschöpfen.
      Wenn es im Aussen ruhiger wird, wird es innen tiefer.
      Bei deinen Bildern erlebe ich das auch so.

      Liebste Kreativ-Grüsse

  2. Dagmar

    Eine Geschichte, die mir Gänsehaut macht! Das Dreizehnte hat für mich auch diese Bedeutung.

    1. Christine

      Hallo Dagmar,
      Ich freue mich darüber, dass wir uns in der „gänsehautigen“ 13 begegnen. Sie hat eine grosse Aufforderung, das Eigene in ihre Nähe zu legen und es ist schön nicht alleine an dieser Schwelle zu stehen !
      Liebe Mondhasen- Grüße

  3. Elisabeth Rolli

    So wahr, so klar, so weise. Die Geschichte ist selbst wie ein Bergkristall mit goldenen und silbernen Einschlüssen, und sie schliesst auch für mich einen Kreis. Einfach wunderbar. Danke Christine!

  4. Wow – was für eine wahrhaftige Geschichte!
    Wie bin ich glücklich gibts euch Spinnerinnen!
    Liebgruss!
    ReGUla