Die Mutterwunde

Töchter wütender Mütter sind anders.

Sie sind einsam. Manche sind wild geworden. Sie bewegen sich eher nicht längerfristig in Gruppen, sondern wollen frei bleiben wegen ihren Bindungsängsten.
In der Kindheit erkennen sie nicht, dass da etwas nicht richtig läuft, weil es die Normalität ist. Sie glauben sogar an diese Liebe. Auch negative Aufmerksamkeit gilt in der Wahrnehmung dieser kleinen Mädchen unbewusst als Liebe. Sie sieht mich. Sie macht sich doch Sorgen, sie will doch nur das Beste für mich. Was habe ich falsch gemacht?

Später, immer noch nicht erkannt, stürzen sie sich in Beziehungen, welche sich nach «Zuhause» anfühlen. Oft geprägt von psychischer und körperlicher Gewalt.
Hauptsache Drama. Da spürt man sich wenigstens und fühlt sich wahrgenommen. – Er sieht mich. Er kann doch nicht anders. Was habe ich falsch gemacht?

Töchter wütender Mütter erhielten als Kind nie Anerkennung. Auch später nicht. Auch Jahre später war man nie gut genug für die Mutter, egal wie stark man sich auch anstrengte und strampelte, um endlich, ENDLICH Mutters Stolz zu erfahren. So sehr man danach dürstet und es ein Leben lang nicht wahrhaben möchte, dass es ihn nicht gibt und nie geben wird, diesen Stolz.

Den es nie geben wird! Diesen Stolz. Nie! Zumindest nicht auf die Tochter.
Es mag sein, dass da Brüder sind. Das sind die guten Kinder in diesem Spiel. Jene, die etwas erreicht haben. Mit denen man nie solche Probleme hatte wie mit der Tochter.
Vielleicht sind es auch die Nachbarskinder, die so viel besser funktionieren als das Eigene.

«Du wirst es nie zu etwas bringen.»
«Such dir endlich einen Mann, der dich versorgt.»
«Sieh zu, dass du nicht zu fett wirst.»
Oder zu anderen Leuten: «Sie ist halt ein bisschen anders als der Rest der Familie. Irgendwie Künstlerin. Ich weiss nicht, woher die das hat.»

Sie wird es nie sagen. Dass sie stolz auf dich ist. Beerdige diesen Traum. Du kannst dich in 10 verschiedenen Jobs und Projekten gleichzeitig abrackern, es ändert nichts an der Tatsache, dass SIE ES NICHT KANN.
Beginnst du dich zu wehren, wird sie sagen: «Du bist überempfindlich, das war doch nur Spass.»

Wenn die Töchter dieser wütenden Mütter beginnen, das Leben und sich selbst zu reflektieren, wenn genug Freiheitsdrang in ihrem Herzen wohnt und sie einen Schritt weiter gehen, wenn sie vielleicht selbst Mutter geworden sind, möglicherweise sogar früh wegen dieser Sehnsucht nach Liebe … Dann beginnt die sicherheitshalber stillgelegte Wunde richtig stark zu bluten.

Die Erstversorgung durch ein paar Flaschen Wein, begleitet von vielen Tränen und dieser Wut, die herausbricht, ist okay. Das Erwachen danach fühlt sich seltsam an. Es wurde ein Gefühl entdeckt und freigelassen, welches man sein ganzes Leben lang unterdrückt hat.

Die Wut.

Nach so langer Zeit des Zusammenreissens.

Und vielleicht erkennen diese Töchter in diesem Moment, welche Kraft in dieser Wut steckt. Dass man eben dadurch, dass man sie freilässt, viel weniger gelähmt ist.
Oft wird diese Wut zur fruchtbaren Begleiterin in der Zukunft.

Wie viele Frauen kenne ich mit unterdrückter Wut! – Ich höre es an ihrer Stimmlage, ich sehe es in ihren Bewegungen. Stets frage ich mich, was diese Frauen gerade erleben. Wann und ob sie überhaupt ausbrechen werden wie ein Vulkan. Ich wünsche es ihnen so sehr.
Ich wünsche auch den wütenden Müttern den Ausbruch aus ihrem Käfig und die Heilung ihrer tiefsitzenden Traumata. Es muss schrecklich sein und wehtun, Liebe nicht zeigen zu können.

Manchmal frage ich mich, wer der wahre Täter ist in diesem Rad des Schicksals, in diesen Familientraumata, welche letztendlich die wildgewordenen Töchter durchbrechen. Sie tragen diese schwere Last, weil sie sich verantwortlich dafür fühlen, dass diese Fahrt gestoppt wird.

Wer hat diesen Müttern so weh getan, dass sie zeitweise zu Stein werden oder eine Täteridentität annehmen? – Auch sie waren einmal das kleine, ungeliebte Mädchen, welches Wut unterdrücken musste. Wo sonst als zuhause, in Sicherheit beim eigenen Kind, hätte der Vulkan endlich spucken können. Vielleicht haben sie ihre Töchter eben doch insgeheim geliebt.

Vielleicht können die Töchter den wütenden Müttern irgendwann verzeihen.

Autorin: Melanie Wenger
Foto: Dana Wenger

Dir gefällt was wir machen… dann bring uns ins Netz. Danke

Facebook
WhatsApp
Email
Pinterest
Twitter
LinkedIn
Telegram

Schreibe einen Kommentar


The reCAPTCHA verification period has expired. Please reload the page.