Wintersonnwend

Die Knochenfrauen

Der Nordwind fegt über die baumlose Hochebene. Die kargen Sträucher der Macchia hüten ihre Würze unter der harten Winterschale der Erde, vertrauen einem Rhythmus, der keine Erinnerung mehr an den Sommer hat. Nur manchmal, wenn es die Sonne schafft, den Wind zu beruhigen, gibt es ein warmes Raunen im dichten Wurzelwerk.

Die Dunkle Zeit nähert sich ihrem Höhepunkt, zeitgleich mit der Balz der majestätischen Geier, die, meist zu zweit, spielerisch und pfeilschnell mit dem Wind tanzen. Seit Urzeiten sind sie hier beheimatet, das Flusstal hat ihnen die herrlichsten Felsentürme geformt und so kennen sie hier jeden noch so kleinen Winkel. Sie bewahren die Balance, verwenden nur, was ihnen zur Verfügung steht und sind Meister der Verwandlung und der Transformation. Doch heute liegt ein eigenartiges Vibrieren in der Luft, ein fremder Geruch und doch vertraut. Etwas rührt sich in ihren Instinktlandschaften, ihr roter Augenring leuchtet feurig und das Bild einer engen Schlucht überrascht ihre scharfen Augen. Nicht hier – wo dann?  Sie wiegen ihren Kopf hin und her und dann verbinden sich ihre bärtigen, scharf gebogenen Schnäbel zu einem gemeinsamen scharfen Pfiff.  Der Wind ändert abrupt seine Richtung.

Weit, weit entfernt, träumt sich ein altes Volk in den Tag – zeitgleich, knochentief, unerwartet und kristallklar. Es ist der Clan der Knochenfrauen, die über den ganzen Erdball verteilt sind. Ihre Sprache geht ins Innerste, in die Tiefe und ihre Medizin ist das Schweigen.

Das Symbol dieses Volkes ist ein schwarzer Kreis, ein Zeichen, tausendfach gemalt und zugleich auch ein Tor in die ureigenste Geschichte eines jeden Wesens.  

Der Traum erzählt von einer Reise zu einem gemeinsamen Feuer, von Flügeln und kalten Winden – und dann hören sie den sturmschnellen Ruf!

Kein Zweifel stört ihre Reisevorbereitungen, die alten Überlieferungen hüllen sie in ein fedriges Gewand, ihr Instinkt überlässt sich dem fernen Geruch. Ein Kohlestück vom letzten Feuer, Wacholder – ein Geschenk von der Jüngsten, die Knochenflöte, den Reisestab, die Trommel sowieso und dann das uralte Lederbeutelchen, das zu keiner Zeit geöffnet werden darf.

Tiefes Mitgefühl, Furcht und Entschlossenheit umkreisen Mutter Erde. – Die Geier warten, der Platz ist vorbereitet.

Ein gleichmäßiges Atmen aus allen Richtungen erfüllt den Platz. Zum ersten Mal kommen die Knochenfrauen in dieser Runde zusammen.  Eine tiefe Ruhe geht von ihnen aus, jede trägt das Gewand ihrer Heimat. Ihre Augen und ihre Seelen erkennen die Gefährtinnen. Tief berührt und voller Respekt bedanken sie sich bei ihren Helfern, den Geiern, und begrüßen die Tiefe dieser Nacht.

Es ist Zeit – jede holt ihre schwarze Kohle vom letzten Feuer aus der Tasche und malt sich damit den schwarzen Kreis in eine Handfläche – die andere Hand bleibt frei, sie wird horchen, sammeln, wiegen und ertasten was das Lichtlose nährt:

Was kann die Balance wieder herstellen? Gibt es einen Heilpfad für das tiefe Getrenntsein?  Wo ist das Bodenlose beheimatet? Hat das Große Ganze einen Plan? Wohin mit all dem Wundsein, der Wut und der Angst?  Was wandelt die Einsamkeit im heiligsten Seelenraum?

Behutsam, tief berührt über dieses Beben und äußerst wachsam, hören die Knochenfrauen zu. Das Lederbeutelchen wird zum Lot. Jetzt spüren und verstehen sie den Traum – das Finden hat keine Geschichten mehr, keine Wurzeln. Das Flüchtige durchkreuzt den Dialog und die Begegnung.  All das rauscht hinein in die wachsame und haltgebende Stille und bekommt seinen Platz. Endlich!

Kein Trösten schmälert die Würde des Verlusts. Die Tiefe der Nacht ist an ihrem Wendepunkt angelangt. Ganz langsam wird es ruhiger. Der schwarze Kreis öffnet sein Tor.

Die Knochenflöten wagen erste Töne, beflügeln das ungläubige Staunen wildlebendiger Schichten. Die Geier öffnen ihre Flügel und hüten den Raum der Verwandlung, in ihrem warmen Gefieder schlummert das neue Licht.

Die Hände der Knochenfrauen berühren sich – wunderbare Geschichten purzeln ins Freie und entfachen das Feuer. Die Balance tanzt sich federleicht in den Morgen.

Autorin: Christine Kostritza
Fotos: von den Spinner:innen

Gewoben aus schamanischen Reisen:
– zu den Knochenfrauen
– zu den Geiern

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Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Susan Kläusli

    Deine Worte haben mich tief berührt. Was hat es alles in mir ausgelöst? Ich darf es suchen.
    Grossen Dank!
    Susan

  2. PETRA

    Du bist eine wahre Zauberin, deine Geschichte voller Magie und tiefer Kraft schenkt mir ein belebendes Prickeln und berührt mich ganz tief, Sehnsucht in mir nach Sterben ins wahre Leben, nach Transformation, nach Aufbruch, nach tiefer Verbundenheit und intuitiv magischem (Zusammen-)wirken… Was trennt mich noch davon, frage ich mich? Vielen lieben Dank!