Die Göttin in meinem Garten

Alle wollen sie heute Göttinnen sein. Schön, liebenswert, makellos. Langweilig! Danke, aber ich bin ganz gern eine Hexe.

«Du bist ambivalent», sagt die Schönheit in meinem Garten und nippt am Weinglas. Sie schüttelt ihr volles Haar, aus den grossen Augen blitzt es verschmitzt und sie schenkt mir ihr strahlendes Lächeln. Unwiderstehlich. Sie hat ein einnehmendes Wesen, ein unglaublich sonniges Gemüt. Sei es mitten in der Nacht beim Antritt der Morgenschicht, nach einem langen, stressigen Arbeitstag oder morgens um fünf nach einer durchquatschten Nacht, sie strahlt immer – immer – Heiterkeit und Lebenslust aus und steckt jeden um sie herum damit an. Man kann ihrem Charme und ihrem Lachen nicht widerstehen. Unmöglich.

«Wie, ambivalent?! Was meinst du?»
«He ja, du schickst ihm zwiespältige Zeichen. Einmal bist du voll da, quasi ‘all in’ und dann sagst du wieder, du liebst es frei zu sein, ungebunden und allein, wild und deiner Lust folgend.»
«Ja. Und?» hake ich nach. «Darf frau denn nicht widersprüchlich sein? Muss alles immer eindeutig, immer klar, immer trallalla sein, Härrgottnumaal?!»
Sie muss mal für kleine Göttinnen.

Als sie aufsteht, gibt sie den Blick frei auf die kleine Statue im Kräutergarten. Sie ist nackt, in einer Muschel stehend, makellos. Ein perfekter Körper, Haut wie aus Alabaster, langes Haar, das trotz Windhauch geordnet schwebt. Eine Hand bedeckt die Scham (Warum heisst das so? Muss frau sich etwa dafür schämen?!), die andere eine Brust. Sinnlich, verführerisch und trotzdem keusch. So stellte sich Botticelli also die Liebesgöttin vor. Wo ist die Lust, das Feuer, das Verlangen? Wo die Wildheit, die Raserei, der Zorn? Wo der Witz, die Weisheit, das Vergnügen?

Ich habe mir offensichtlich die falsche Göttin in den Garten geholt. Passender wäre eine kleine Baba Yaga. Die slawische Hexe lebt zurückgezogen im Wald, ist angsteinflössend, alles verschlingend und vielleicht auch ein bisschen verrückt. Die Alte wirbelt mit ihrem Besen den Staub auf, den man eigentlich lieber unter den Teppich gekehrt hätte. Sie stellt schier unlösbare Aufgaben, jagt mit zerzaustem Haar in ihrem Mörser durch die Lüfte, in dem sie dich zermalmen kann, wenn sie dich in ihre knochigen Finger bekommt. Sie ist mächtig und weise, wild und unabhängig. Oh ja, das gefällt mir. Auch wenn ich mich vor ihr fürchte, sie scheint mir authentischer zu sein als die keusche Perle in der Muschel.

Die Schönheit ist zurück im Garten. «Oh, eine Venus. Die ist aber hübsch.» Sie betrachtet die Statue aus der Nähe. «Hoppla, die hat sich aber schon mal die Beine gebrochen, wie es scheint.»
Stimmt. Das hatte ich vergessen. Die Statue musste geleimt werden.
«Und an der Brust hat sie eine Delle. Und Schmutz im Gesicht.»
Aha! Also doch nicht so makellos, die Madame. Aus der Distanz waren diese Verunzierungen nicht zu sehen.

Jetzt fällt mir auch wieder ein, dass die Urgöttin Baba Yaga nicht nur dunkle, wilde Aspekte aufweist. Sie kann auch hilfreich sein, gibt Ratschläge oder Geschenke. Sie bringt den Tod, aber auch das Leben. Und Venus? Sie steht nicht nur für romantische, göttliche, spirituelle Liebe, sondern auch für die körperliche. Ausschweifende Liebeslust als Inbegriff der Lebensfreude.

Hm … Vielleicht steht ja doch nicht die falsche Göttin in meinem Garten.

Heute bin ich Baba Yaga, morgen vielleicht Venus und übermorgen … Kali? Hekate? Demeter? Luna?
Das seh’ ich dann.

Ich bin nicht ambivalent. Ich bin eine Frau. Und das ist gut so. Was für Göttinnen aka Hexen gilt, soll auch für Frauen gelten.

Autorin: Luciana Brusa
Fotos: Brigitte Jeitzener, Luciana Brusa

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