Die Fäden weiterspinnen
Tatsächlich war es eine Spinnerin, die mich Ende der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts dazu inspirierte, mein erstes Buch «Wild und Weise. Weibsbilder aus dem Land der Berge» zu schreiben und auch mein neuestes «Bergmütter, Quellfrauen, Spinnerinnen» (2021) geht auf sie zurück.
Es ist die alte Schmidtja, eine Sagenfrau aus dem Aletschgebiet, die, währenddem sie am Spinnrad sitzt, Kontakt zu den Wesen der nichtsichtbaren Welt aufnimmt und sich nicht selten auch bei Menschenkindern meldet, wenn die Zeit reif ist dafür. Mich erschreckte sie ganz unerwartet in einer Art Wachtraum zu einer Zeit, da andere Dinge für mich weitaus wichtiger waren als mythische Geschichten, andersweltliche Kontakte und heimatliche Gefilde.
Die Ahninnen rütteln an deiner Lebensgeschichte
Die Begegnung mit der Ahnin – damals nannte ich sie noch nicht so – erschütterte mich zutiefst in meiner damaligen Lebenssituation und führte zu wegweisenden Veränderungen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich endlich wieder bewusst anzuschliessen an meine Walliser Herkunft, an meine Kindheit in den Bergen, meine alte Vertrautheit mit den elementaren Kräften, mit den Sagen und wilden Geschichten einer urwüchsigen Landschaft.
Die alte Schmidtja übernahm auf ihre Art die Führung. Unerwartet lockte sie mich als erstes in die Stadt. In Zürich fand ich eine Frauengemeinschaft, in der es darum ging, die Rhythmen und Zyklen des Lebens durch bewusste Begehung des Jahreskreises zu erforschen. Zu den acht uns bekannten Höhepunkten des Jahres suchten wir starke Plätze auf, wo wir meist die ganze Nacht zubrachten: da war die Gruft in der Wasserkirche, ein Richtplatz an der Sihl, ein Kultort auf dem Uetliberg, und wir schreckten auch vor dem Hauptbahnhof nicht zurück…
Es war ein abenteuerliches und lehrreiches Jahr und mir war danach, neben dem persönlichen Erleben auch freizulegen, was aus der Tradition zu diesen Jahresabschnitten noch zu erfahren ist und welche Frauengestalten seit alters her diese begleiten. Im Gegensatz zu heute, wo im Internet viele Informationen dazu zu finden sind, war es damals anspruchsvoll und zeitraubend, solche zu entdecken. Durch Berge von Büchern habe ich mich durchgearbeitet: lesend, träumend, meditierend, tanzend, spinnend – und es zeigte sich: Dieses «alte Wissen» gibt viel Wurzelkraft, bettet uns ein in die Menschheitsgeschichte und lässt die Fäden weit in die Zukunft spinnen.
Ich war auf der Pirsch, folgte den Spuren der Ahninnen. Ihre Kraft liegt nicht offen da. Sie haben sich versteckt, denn lange Zeit sind sie verdrängt und vertrieben, verschwiegen, verleugnet, verbannt und verbrannt worden. Mir wurde es wichtig, die Geschichte hinter ihren Geschichten zu erforschen. Und oft liessen sich patriarchale, christliche, moralische Zurechtbiegungen und Überformungen, Dämonisierungen oder Verniedlichungen wie Schichten einer Zwiebel abschälen, und dahinter kam ein älterer Kern zum Vorschein. Dieser war es zumeist, der für mich die Kraft ausmachte und Sinn vermittelte bis in meine Gegenwart.
Frauengeschichte, Frauengruppen
Ein Stück verdrängte Frauengeschichte ist bei dieser Arbeit sichtbar geworden. Sie hat mir neue Denkweisen eröffnet und meine Vorstellungen davon erweitert, woher wir kommen und wer wir sind. Spuren vergangener Frauenlebenswelten haben sich gezeigt – von denen unserer Gross- und Urgrossmütter durch die Jahrhunderte hindurch bis zu jenen fernen in der Frühzeit der Menschen, von denen bekannt ist, dass sie unter dem Schutz der Grossen Ahnfrau standen.
Im Buch «Wild und weise» (1998) habe ich mein Erleben und meine Erkenntnisse zusammengefasst. Es stiess auf viele interessierte Leserinnen und die Nachfrage war gross nach Seminaren – nach gemeinsamem Erleben der Naturkräfte und der jahreszeitlichen Höhepunkte. So sind wir denn gemeinsam durch die Wälder gestreift, haben den Botschaften der Bäume, Bäche, Berge und Tiere gelauscht, sind am Feuer gesessen, haben Geschichten erzählt und unsere Erfahrungen ausgetauscht. Heute ist es für mich beglückend zu sehen, dass sich der Kreis dieser jahreszeitlichen Feiern geweitet hat, und dass viele Frauen auf schöpferische Weise ihre persönlichen Rituale finden, um so die Rhythmen und Zyklen der Natur und des Lebens zu würdigen und mitzugestalten.
Kraftorte, Anderswelt und Heilrituale
Für mich war schon damals bei unseren experimentellen Stadtritualen klar: Je weiter wir uns in die Tiefenschichten eines Ortes und all ihrer Wesen hineinwagen, umso wichtiger ist es, mehr zu wissen über den «sicheren» respektvollen Umgang mit der Anderswelt oder der nichtalltäglichen Wirklichkeit. Was nun folgte, war eine intensive «Schulung» in schamanischen Techniken. Nun sass ich oft im Kreis mit Schamaninnen aus aller Welt und solchen, die es gern gewesen wären. Doch mich interessierte vor allem das, was vom europäischen Schamanismus noch übriggeblieben war. Nach Forschungsreisen in Irland, Wales und Cornwall liess ich mich für einige Zeit in der Bretagne nieder. Hier lebte – meist unter einem christlichen Deckmantel – noch die keltische und vorkeltische Tradition. Zehn lange Sommer verbrachte ich bei Menhiren und Dolmen, bei Quellen und Kirchlein, lauschte den Anderswelt-Geschichten der einheimischen Sänger und Geschichtenerzählerinnen, wanderte an weiten Sandstränden und in mythischen Wäldern.
Wo und wie finden wir Kraftorte? Wie können wir unsere Wahrnehmung für die Kräfte magischer Orte verfeinern? Wie öffnen wir uns für deren Wirkungsweise? Wie können wir sie für uns nutzen – hin zu Erneuerung, Wandlung und Gestaltung eines gesunden, erfüllten, selbstverantwortlichen Lebens? Das waren die Fragen, die mich begleiteten. Das Praxis-Buch, das zu dieser Zeit entstand, heisst «Vom schöpferischen Umgang mit Orten der Kraft» (2006). Und aus eigener Betroffenheit schrieb ich dann 2012 noch eines: «Heilrituale in der Natur», in dem es darum geht, persönliche Rituale zu gestalten, um die Selbstheilungskräfte zu stärken – vor allem in Zeiten der Krankheit, des Umbruchs oder in einer Lebenskrise.
Spinnerinnen im Netz des Lebens
Irgendwann geht jede Reise zu Ende. Wir kommen an. An unserem Platz des Wirkens und des Seins, des gewöhnlichen Tagwerks. Der Platz, der mich heute zum Bleiben auffordert, ist ein kleines Bergdorf in den Walliser Alpen. Der Blick von meinem Arbeitszimmer hinaus auf das Dorf mit seinen dunklen Holzhäusern, auf die Moränenhügel der einstigen Gletscher, hinein in die schroffen Tiefen des Nachbartals und hinauf in die eisigen Höhen der Viertausender lässt mich keinen Augenblick daran zweifeln, dass hier hinter jedem Stein und jedem Baum Geschichten warten, die erzählt werden wollen, solche, die unserer Seele Nahrung geben und uns helfen, das Wesen des Lebens zu begreifen. So nehme ich dankbar die Atmosphäre und die Inspirationen auf, die das Land an der jungen Rhone mir bietet.
Ich suche und begegne der hiesigen Ausgestaltung der Grossen Ahnfrau und entdecke zugleich, wie sehr das Lokale vernetzt ist mit dem Grossen Ganzen. Wahrlich, die Spinnerinnen sind am Werk, und mir wird klar: Unsere Reise zu den Ursprüngen ist zugleich der Weg in die Zukunft. In diesem Sinne entstand mein neues Buch «Bergmütter, Quellfrauen, Spinnerinnen». Es zeigt Walliser Sagenfrauen in ihrer Verbindung zum zeitlosen Wissen der Weisen Frauen. Hier wird klar: Es geht nicht darum, in die vermeintliche Harmonie gestriger Zeiten zurückzukehren, sondern darum, mit viel Wurzelkraft neues Vertrauen zu gewinnen, um wirkkräftig zu leben und lebensbejahende Perspektiven zu entwickeln
Autorin: Ursula Walser-Biffiger
Fotos: Ursula Walser-Biffiger
Bücher von Ursula Walser-Biffiger
Bergmütter, Quellfrauen, Spinnerinnen
Gibt es hier bei uns im Spinnerinnnen-Lädeli
Sagen und Geschichten aus dem Wallis
Verlag Hier und Jetzt 2021
Heilrituale in der Natur
Die Wahrnehmung verfeinern, persönliche Rituale gestalten, die Selbstheilkräfte stärken.
AT Verlag 2012
Vom schöpferischen Umgang mit Orten der Kraft
Ein Praxisbuch mit Übungen und Ritualen
AT Verlag 2006
Wild und weise
Weibsbilder aus dem Land der Berge.
AT Verlag 1998
Nur noch antiquarisch erhältlich
Mehr über Ursula findest du hier: www.ursulawalser.ch
Dir gefällt was wir machen… dann bring uns ins Netz. Danke