Wahrnehmung

„Je älter man wird, desto schneller vergeht die Zeit.“ Aber stimmt das wirklich? Zeit ist schliesslich eine feste Grösse – sie verrinnt stets gleichmässig wie Sand durch ein Stundenglas. Warum also scheint unsere Wahrnehmung nicht mit dieser Realität übereinzustimmen?

Wahrnehmung, das bewusste Erleben und Empfangen von Eindrücken, gerät oft in den Hintergrund, wenn wir älter werden und uns nicht aktiv darum bemühen. Als Kind brauchte ich für den Heimweg von der Schule eine Stunde, obwohl der Weg eigentlich nur 20 Minuten dauerte. Warum? Ich war neugierig und aufmerksam: Ich beobachtete Schnecken, lauschte Vogelrufen, spürte den Wind auf meiner Haut und sog den Duft frisch gemähter Wiesen ein. Das war Wahrnehmung in ihrer reinsten Form, eine Fähigkeit, die wir als Kinder ganz automatisch besitzen. Doch mit der Zeit verlieren viele von uns diesen bewussten Zugang zur Umwelt. Sätze wie „Du stehst erst auf, wenn dein Teller leer ist“, lehren uns früh, die Signale unseres Körpers zu ignorieren. Allmählich verschiebt sich unser Fokus vom Inneren nach aussen, hin zu Erwartungen und Zwängen, die uns von dieser kindlichen Neugier entfernen.

Bewusste Wahrnehmung prägt jedoch nicht nur, wie wir die Welt erleben, sondern beeinflusst auch, wie wir mit Herausforderungen umgehen. Sie ist eng verbunden mit Resilienz – jener inneren Stärke, Rückschläge zu bewältigen und gestärkt aus Krisen hervorzugehen. Wer präsent im Moment bleibt und seine Sinne aktiv einsetzt, findet leichter Klarheit und Ruhe.

Gerade in stressigen Zeiten verlieren wir uns oft in Grübeleien über Vergangenes oder Sorgen um die Zukunft. Hier kann bewusste Wahrnehmung helfen: Sie bringt uns ins Hier und Jetzt zurück und löst uns aus dem Gedankenkarussell. Dadurch entsteht Raum für neue Perspektiven – selbst in scheinbar ausweglosen Situationen, wie ein Phönix, der aus der Asche steigt.

Resilienz bedeutet nicht, dass wir unverwundbar sind oder schwierige Gefühle einfach ignorieren. Es geht darum, flexibel zu bleiben, diese Gefühle zuzulassen und trotzdem den Fokus auf Lösungen und Chancen zu richten. Diese innere Stärke braucht eine stabile Basis, die wir durch Achtsamkeit und bewusste Wahrnehmung stärken können.

Die Natur bietet dabei eine heilsame Quelle der Ruhe. An hektischen Tagen zieht es mich oft in den Wald. Dort lasse ich den Lärm des Alltags hinter mir, lausche dem Rascheln der Blätter und dem Zwitschern der Vögel. Diese Momente erden mich und helfen mir, klarer zu denken. In der Natur wird mir immer wieder bewusst, dass alles vergänglich ist. Sie erinnert mich daran, dass auch schwierige Zeiten vorübergehen – wie die Jahreszeiten, die sich unaufhörlich wandeln. Ich bin überzeugt, dass solche kleinen Auszeiten eine tiefe Wirkung auf Körper und Geist haben. Die beruhigende Kraft der Natur ist kein blosses Gefühl, sie wird auch wissenschaftlich belegt. Das Spüren von Gras unter den Füssen, das Hören von Vogelgezwitscher oder das Berühren der rauen Rinde eines Baumes beruhigt das Nervensystem und senkt den Stresspegel. Solche Augenblicke des Innehaltens geben uns Kraft, schwierige Phasen zu meistern und den Blick auf das zu richten, was wir tatsächlich beeinflussen können.

Wahrnehmung gibt uns Orientierung und bringt uns zurück zu uns selbst. Sie lässt sich trainieren – nach innen wie nach aussen. Für die Innenwahrnehmung genügt es, sich in Ruhe hinzusetzen und den eigenen Körper bewusst wahrzunehmen: Wie fühlt sich dein Kopf an? Dein Nacken? Deine Schultern? Wo berührt dein Körper den Stuhl? Für die Aussenwahrnehmung eignet sich ein Spaziergang. Beobachte die Umgebung wie ein neugieriges Kind: Wie bewegen sich die Bäume im Wind? Welche Geräusche hörst du? Welche Düfte nimmst du wahr?

Durch regelmässiges Üben werden wir präsenter und achtsamer. Das steigert nicht nur die Akzeptanz, sondern auch unsere innere Stärke. Es wird Zeit, das neugierige Kind in dir wiederzuentdecken und die Welt mit allen Sinnen wahrzunehmen. Du wirst überrascht sein, wie viel du entdecken kannst und wie du immer mehr „sehen“ wirst.

Autorin und Bild: Luana Lightwood

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