Von Rauhnächten, Wölfen und Trickstern

Das erste Mal begegnete mir der schwarze Wolf in den Rauhnächten 2007/2008.

Ich lebte damals wie eine Schildkröte in einer Einsiedlerwohnung am Balgrist in Zürich, gleich neben dem Wehrenbachtobel, wo ich viel Zeit verbrachte. Dazwischen lag die Forchstrasse, eine breite, laute Einfallsstrasse nach Zürich. Von der Forchstrasse ins Tobel sind es keine 70 Meter, aber es ist ein Wechsel in eine andere Welt. Vom Lärm der Stadt abgeschirmt, immer ein paar Grad kühler und schattiger, das Plätschern des Baches, das Atmen der Bäume… Stadt und Natur unmittelbar nebeneinander wie zwei Parallelwelten, und ich, quasi auf der Schwelle, wie die Hagazussa, die Zaunreiterin, die mit einem Bein in der Wildnis und mit dem anderen in der Zivilisation steht.

Ich war also allein zu Hause, in meinem Schildkrötenpanzer, und ich war einsam.

In den Rauhnächten wird Bilanz gezogen über das vergangene Jahr, und was unfertig ist oder in Schieflage, kommt jetzt unausweichlich aufs Tapet. Bist du mit dir im Reinen? Kannst du für dich und die Deinen sorgen? Weisst du, wie man heil durchs Chaos dieser ungeregelten Zeit zwischen den Zeiten steuert? Erträgst du die Stille dieser Tage? Fällt dir alles ein, was du im alten Jahr hättest tun wollen/sollen und nicht getan hast? Oder hast du so viel getan, dass dir jetzt die Stille und Leere unerträglich sind, in der du dir selbst begegnen musst? Ich war mitten in diesem Strudel, der am Silvester seinen Höhepunkt erreichte:

Tagebucheintrag vom 31. 12. 2007:

«Gestern legte ich ein Anis-Chräbeli ins Fenster und bat Frau Percht um einen Traum.  An den Traum kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber heute beim Aufwachen dachte ich im Halbschlaf über das Ende vom Wolf in den sieben Geisslein nach. Dem Wolf wurde der Bauch aufgeschnitten, mit Steinen gefüllt, und als er sich über den Brunnen beugte, um zu trinken, riss ihn das Gewicht der Steine in die Tiefe. Ich fragte mich, warum, wenn sie dem Wolf schon den Bauch aufschlitzten, sie ihm nicht gleich die Kehle durchschnitten.  Das wäre doch viel einfacher gewesen. Ich kam darauf, dass der Wolf eben nicht einfach sterben, sondern durch den Brunnenschacht in die Unterwelt zurückkehren musste. Allerdings wunderte ich mich flüchtig, wie der Wolf an einem Ziehbrunnen Wasser trinken wollte. Jetzt erst glaubte ich mich erinnern zu können, dass es gar kein Brunnen, sondern ein Bach oder Fluss war, in dem der Wolf ertrank. Jedenfalls war ich nun schon beim Brunnen, und da fiel mir Frau Holle ein, und ich versuchte, im Geiste meiner christlichen Mutter den schamanischen Gehalt dieses Märchens zu erklären…  Das Mädchen Marie, das von seiner Stiefmutter diffamiert wird, durch den Brunnen in die Unterwelt hinabsteigt und dort von Frau Holle, einer nahen Verwandten von Frau Percht, initiiert wird. Als Belohnung erhält sie Gold – Selbstwert und persönliche Substanz – das, was am Ende jeder erfolgreich gemeisterten Krise winkt und bringt es zurück in die Welt, in der sie lebt…

Doch als ich aufgestanden war, hatte ich all die schläfrigen Gedanken wieder vergessen. Im Verlaufe des Tages setzte ich mich an den Laptop und suchte unter «Percht» ein bisschen im Google-Universum rum, weil ich hoffte, auf den einen oder anderen Perchtenbrauch zu stossen. Und was hatte die erste Website, die ich öffnete, dazu zu sagen? Frau Percht geht in den Rauhnächten um, bestraft Faulheit und unangebrachte Neugier gerne mit Albträumen oder, im schlimmeren Falle, indem sie einem den Bauch aufschlitzt, ihn mit Steinen füllt und einen damit vorzugsweise in den Brunnen schmeisst. (Sie schickt einen also auf die eher unsanfte Art auf die Reise in die Unterwelt.) Gerne kontrolliert sie, ob man geputzt und aufgeräumt hat (nicht meine Stärke). Insbesondere weisse Laken sollten nicht rumhängen oder liegenbleiben, weil sie sonst verschwinden und im Lauf des Jahres als Leichentuch wiederkehren, und kleinen Kindern hat man früher damit gedroht, dass, wenn sie nicht das Zimmer aufräumen, die Percht ihnen in der Nacht den Bauch aufschneidet und all die unaufgeräumten Sachen hineintut. Interessant, dass ich seit Beginn der Rauhnächte einen Putzfimmel habe wie nie zuvor. Und die neue Bettwäsche liegt in meinem Schlafzimmer seit Tagen rum und wird von A nach B und wieder zurückverlegt, nur nicht – endlich – das Bett damit bezogen. Und erst die merkwürdig unaufgeräumten Dinge, die einem im Magen liegen…»

Die unaufgeräumten Sachen im Bauch

Die Rauhnächte sind eine Zeit der Transformation, und das sind die Lieblingszeiten für unaufgeräumte Sachen. Das alte Jahr läuft noch, das neue ist noch nicht da. Die zwölf Rauhnächte sind die Differenz zwischen dem alten, weiblich-zyklischen Mondkalender und dem neuen, patriarchal-mathematischen Sonnenkalender, da, wo’s nicht aufgeht, wo’s knirscht. Wir erinnern uns: Als zur Feier von Dornröschens Geburt die dreizehn Feen (Monde) eingeladen werden sollten, gab es nur zwölf goldene Teller (Sonnenscheiben). Deshalb wurde die dreizehnte Fee nicht eingeladen. Sie wurde ausgeschlossen, da sie im Sonnenjahr keinen Platz mehr hatte. Da wurde sie böse… Natürlich erschien sie trotzdem zum Fest und sprach statt eines Segens einen Fluch aus. Sie hatte sich in einen Dämon verwandelt.

Deshalb sind die Rauhnächte eine so sensible Zeit für alles, was verbannt und dämonisiert worden ist. Die Percht war ursprünglich eine lichtvolle und segensspendende Göttin. Sie ist die Herrin der Spinnerinnen und Hüterin der Spinnstuben, wie auch der fliegenden Frauen und Schamaninnen. Ihr Name kann sowohl «verbergen» als auch «leuchten» bedeuten. Mit der Dämonisierung alles Weiblichen und Heidnischen wurde auch Frau Percht mehr und mehr zur wüsten Dämonin, die die Hausfrauen kontrolliert, die Kinder erschreckt und von den wehrhaften jungen Männern mit allerhand Brauchtum in die Flucht geschlagen werden muss, zurück ins dunkle Tobel, wo auch der Wolf wohnt.

Der dunkle Wolf – auch er ein Exemplar aus dem Dämonium der abendländischen Kultur

Wölfe sind in Wirklichkeit hochsoziale Tiere, wir können viel von ihnen über das Zusammenleben im Rudel und über gute Führungskultur lernen. Aber sie sind auch wild. Und das verträgt sich gelegentlich schlecht mit domestizierten Tieren, genauso wie die Percht sich schlecht mit domestizierten Frauen verträgt. Nicht umsonst zieht sie mit einer Schar «wilder Weiber» umher.

Doch zurück zu meiner Geschichte mit dem Wolf. Lange Zeit hörte ich nichts mehr von ihm. Ich hatte die Einsamkeit aufgegeben und eine Familie gegründet, aber die Rauhnächte wurden nicht einfacher, im Gegenteil. Die Steine im Bauch wurden nun gerne auch dazu benutzt, einander gegenseitig damit zu bewerfen.

Eine Weisse Wölfin tauchte auf. Ich lernte viel von der lichten Wolfsseite, aber wo Licht ist, ist immer auch Schatten, das gilt auch für weisse Wölfinnen, die einen lehren, das Ego zugunsten der Gemeinschaft zurückzustellen. Und so kam der schwarze Wolf zurück. Als Schatten. Und er forderte vehement, bei Lichte betrachtet zu werden.

Wir begaben uns auf eine Reise, und in der Schattenarbeit verwandelte er sich schliesslich von einem struppigen Bösewicht in einen schönen, schwarzen Wolf mit glänzendem Fell und einer ungeheuren dunklen, erdigen Kraft und Autorität. Er stellte sich mir als Trickster vor, als Schlingel des Ostens, der alle Machtverhältnisse auf den Kopf stellt, sich nimmt was er will, und dabei jedes Mal mehr gibt als ihm lieb ist. Er ist der Narr, der dem Kaiser sagt, dass er nackt ist, Prometheus, der den Göttern das Feuer stielt, Pippi Langstumpf, die sich an keine Regeln hält und doch nach ihren eigenen Regel lebt, nämlich, dass wer stark ist, auch gut sein muss. Und man sagt auch, dass der Trickster die Welt aus einer Lüge erschaffen hat.

In unserem Kulturkreis bringen wir eher den listigen Fuchs mit dem Trickster in Verbindung, während der Wolf der böse Schurke ist. Dabei verhält sich der Wolf sehr trickreich in den Märchen. Er verkleidet sich als Grossmutter oder frisst Kreide, um seine Stimme höher erscheinen zu lassen, damit er an sein Ziel, den fetten Bissen, gelangt. Doch während der Fuchs problemlos zwischen Zivilisation und Wildnis pendelt, lebt der Wolf im dunklen Wald, im Tobel, schon immer ein Ort für Outlaws und für Verbannte. Vielleicht ist der Wolf unter seiner Dämonenhaftigkeit der wahre Trickster? Denn Trickster waren nie beliebt bei denen, die die Regeln machen.

Dann trug ich den Trickster ums Medizinrad

Im Süden erschien das Rotkäppchen, im Westen wurde es vom Wolf gefressen, im Norden wieder ausgespuckt, und im Osten… im Osten schliesslich frass das Rotkäppchen den Wolf! Seither trägt es seine Eigenmacht im Bauch herum, und wenn ihm einer blöd kommt abseits des Weges im dunklen Wald, und sei es gar die wilde Jagd, sagt es nur: «Hey, pass bloss auf! Ich habe gerade den grossen schwarzen Wolf gefressen!»

Und so ist es auch mit der Percht. Ursula Walser-Biffiger schreibt in «Wild und Weise»:

«Und wenn Geschichten allzu artig daherkommen, sind es die wilden Winter-Dämoninnen oder die Truden, aus dem Gefolge der Percht, die für Alpträume sorgen, verirren, stören, lärmen und uns daran erinnern, dass wir die Freiheit aufgegeben haben. Den Frauen aber, die sich entschlossen haben, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, die Spinnerinnen ihrer eigenen Geschichte sind, bleibt die Percht das ganze Jahr über eine Freundin und Beschützerin. Und in der kommenden Lichtmesszeit sorgt die alte Göttin dafür, dass nochmals tüchtig Geschichten gebraut werden und sonstiges…»

Warum nicht einmal das Neue Jahr in Form einer Lügengeschichte kreieren? Nächstes Jahr werde ich Königin von England! Und du? Pippi Langstrumpf hätte ihre helle Freude daran. Warum nicht auch die Schicksalsgöttinnen, während sie die Karten fürs neue Jahr mischen?

Text: Elisabeth Rolli
Bilder: Valentin Salja und Corbin Miller unsplash

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Dieser Beitrag hat 7 Kommentare

  1. Yvonne Purtschert

    Danke für diese inspirierenden und vernetzte Geschichte.
    Und: tolles Magazin, gratuliere euch Spinnerinnen. Ich wünsche gutes Gelingen weiterhin!
    ganz herzlich und unartig-wölfisch-pippilangstrumpfig grüsse ich

    1. Elisabeth Rolli

      Der allererste Kommentar! Wie aufregend! Liebe Yvonne, ganz herzlichen Dank- ich freue mich sehr dass Dir die Spinnerinnen gefallen. Gruss, die Wolfsspinne;-))

      1. Elisabeth Wegmann

        Ja warum nicht, dass das Rotkäppchen den Wolf verschluckt! Alles ist möglich – und doch so Bedeutungsträchtig.
        Interessante Wendungen. Mir gefallen die Deutungen und Verknüpfungen. Sehr inspirierend. Herzlichen Dank!

  2. Kurt Grünenfelder

    Tolle Ideen, tolle Geschichten, tolle Erkenntnisse, tolle Spinnerinnen, toller Auftritt! Herzlichen Dank für euer tiefes Engagement! Ein grosses tolles Netz wünsche ich euch!

  3. Dagmar

    Vielen Dank für diesen wunderbaren, märchenhaften, amüsanten und tiefsinnigen Text! Er hat mich sehr berührt, in alle Richtungen von schmunzelnd bis nachdenklich. Ich stelle mir gerade vor, wie mein Rotkäppchen den Wolf frisst. Wie er wohl schmeckt? Ob ihr manches aufstößt? Und wie sie so ein deftiges Fleischmahl verwandelt, hui!

    1. Elisabeth

      Liebe Dagmar! Schön, dass Dich der Text zu ungewöhnlichen Mahlzeiten anregt! Es geht übrigens bald weiter mit der Geschichte: Was geschah, nachdem Rotkäppchen den Wolf gefressen hatte… Mehr sei noch nicht verraten;-)