Eine Geschichte am Wegesrand
Er steht da. Nur ein paar Schritte links von mir, da, wo ich gerade gehe. Er trägt einen langen dunklen Mantel und einen Hut mit richtig breiter Krempe. „Da steht der Tod“, denke ich leise. Sein Gesicht spiegelt viele Leben. Sein Blick ist klar und er schaut mich an.
Es ist nur die kurze Sequenz eines Moments und doch ist das Bild so klar in mir, dass ich es nie vergessen werde. „Du siehst freundlich aus“, höre ich mich sagen. Einen Moment weiter steht an der Stelle, wo eben noch die Gestalt stand, eine alte tote Birke neben einer Buche, auf der anderen Seite eine Eiche.
Wenn du mich jetzt fragen möchtest: „Erzähle doch mal, was so eine „Erscheinung“ genau ist, woher sie kommt, wie es sich anfühlt und ob es so etwas wie einer Vorbereitung bedarf, um in Kontakt mit ihr kommen zu können“, wenn du mich das jetzt fragst, kann ich es gar nicht beantworten. Außer, dass es einfach passiert.
Sowieso gibt es viel, was ich überhaupt nicht erklären kann. Das Leben zum Beispiel, wie bitte erklären wir das Leben, wie den Tod … Wir können von unseren Gefühlen reden, dass wir glücklich sind, wir sind eifrig, wir sind faul, wir sind aufmerksam oder verträumt, wir sind wachsam und tatkräftig, oder dass wir Angst haben. Wir haben Vorfreude. Nachsicht ist auch so ein Gefühl, genauso sich sehnen. Trauer, traurig sein, Verzweiflung auch. Wieder aufstehen, wieder aufstehen ist auch ein Gefühl. Das Gefühl von allein sein. Wiedergutmachung erleben, Erfahrungen machen, Versöhnen. Ich versöhne mich. Du versöhnst dich, wir versöhnen uns. Zusammengehörigkeit ist ein Gefühl. In Verbindung sein, Glücksgefühl.
Für heute ist meine Antwort: Gefühle fühlen ist Tod und Leben – ich bin – ich suche – ich finde – ich wünsche – ich erlebe – mich in dir.
So auch der Tod zwischen Buche und Eiche mit seinem freundlichen Gesicht. So ein freundliches Gesicht, so ein weises, eines, das aus vielen, vielen Leben spricht. Er steht da, er schaut mich an, steht still da und schaut mich an. Seine Arme verharren, rechts und links von seinem Körper, bewegungslos. Alle Leben sprechen aus seinem Blick.
Mein Gefühl ist unendliches Vertrauen, das ist es, was bleibt, während ich meinem Weg folge.
Wir sind an diesem Vormittag losgegangen, mein Hund und ich, sind über die Felder vertrauten Schritten gefolgt. Ein Bussard zieht seine Kreise. Es gibt 7 Eingänge in unserem Wald und wenn wir losgehen, wissen wir nicht, welchen Eingang wir nehmen. Es kommt, wie es kommt, oder es passiert einfach.
„Eben noch Pipi machen, dann gehen wir“, höre ich mich sagen, und im gleichen Moment denke ich, was mein Hund wohl denkt? Er will rausgehen, um sich zu erlösen und ich muss das vorher machen. Haha, aber so ist es eben, jeder hat seine eigene Welt. Was ich besonders liebe, ist die unausgesprochene Selbstverständlichkeit seinerseits.
Ich mag Feldwege im Frühling, die verwischten, überlaufenen Spuren. Das matschige, wirre Gewächs des schwindenden Winters, verharrend, neben einer Ahnung dessen, was neu wachsen will. Ich mag den Wegesrand. Auf den Feldern die keimenden Sprossen des Winterweizens. Die Ungeduld und den verschlafenen Sinn für das, was ist; im Gegenüber zu dem, was kommen will.
Er steht da. Er trägt einen dunklen Mantel und einen Hut mit richtig breiter Krempe. Sein Gesicht spiegelt viele Leben. Sein Blick ist klar, und er schaut mich an.
„Du siehst freundlich aus“, höre ich mich sagen. Und im nächsten Moment steht an der Stelle, wo eben noch eine Gestalt stand, eine alte tote Birke.
Das ist, was bleibt. Es passiert einfach, der Tod und das Leben.
Autorin, Bilder und Foto: Christiane Holsten
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