Eine Geschichte über Geschichten
„Jeder Mensch hat eine Geschichte seines Herzens – glücklich ist der, der sie kennt.“
So heißt es in einem alten Berber-Märchen, das der Geschichtenerzähler Tahir Shah als Aufhänger für einen Roman genommen hat: „Der glücklichste Mensch der Welt“. Zu dem wird der Held erst am Ende, als er auf der Suche nach „seiner“ Geschichte durch die ganze arabische Welt gereist ist und endlich auf jemanden stößt, der ihm genau diese Geschichte erzählt.
Die größte Chance, dieses Glück zu finden, müssten wir eigentlich im Winter haben. Dann, wenn die Nacht früh hereinbricht, die dunklen Abende lang sind und das spärliche Licht des Feuers kaum mehr zum handwerklichen Arbeiten taugt. Dann ist die Zeit der Geschichtenerzähler gekommen. Na gut: Das war einmal …
Inzwischen lesen wir eher, anstatt einander zu erzählen. Unsere Gesellschaft mag die Schriftform wohl lieber, auch wenn sie die ungeselligere Variante ist. Selbst unter den Märchenerzählern gibt es solche, die sich strikt an das geschriebene Wort halten, weil ihnen alles andere falsch erscheint. Die Schriftform hat etwas Perfektionistisches: Was schwarz auf weiß dasteht, das muss ja irgendwie stimmen!
Die Druiden hingegen schrieben nichts auf, sie gaben ihr Wissen vor allem mündlich weiter; weshalb manche Wissenschaftler ihnen unterstellten, sie hätten gar keine Schrift gehabt. Vielleicht haben sie auch bewusst nichts aufgeschrieben: damit ihr Wissen nicht in falsche Hände gerät. Oder weil erzählte Geschichten die anpassungsfähigsten, die lebendigsten sind. Auf Papier gebannte Geschichten können sich nicht mehr so leicht verwandeln. Sie wachsen nicht mit der Gesellschaft mit.
Egal ob wir Geschichten nun hören, lesen oder selbst schreiben: Wenn sie uns berühren und wir uns später an sie erinnern, haben sie sich verwandelt. Wir haben sie uns zu eigen gemacht. Als ich eine Freundin nach ihrem Lieblingsmärchen fragte, erzählte sie mir eine völlig neue Version von Schneewittchen … in der Überzeugung, genau das sei das Märchen, das man ihr als Kind immer vorgelesen habe.
Das mit dem Verwandeln beruht auf Gegenseitigkeit: Wir verwandeln Geschichten, und die Geschichten verwandeln uns. Geschichten, vor allem so archetypische wie Mythen und Märchen, haben heilende Kräfte. Sie machen Mut. Sie öffnen Türen. Wenn ich im Alltag nicht weiter weiß, schlüpfe ich kurz in eine meiner Geschichten. Nachsehen, mit welchen Ungeheuern meine Helden und Heldinnen dort gerade zu tun haben. Wen sie zu Hilfe holen und was der oder die ihnen sagt oder mitgibt. Selbst wenn ich von dort keine Lösung mitbringe, so kann ich doch Kraft und Mut in dieser anderen Welt tanken.
Meine Geschichten müsste ich eigentlich ständig umschreiben, denn sie verändern mich – und sich – andauernd. Sie wachsen mit mir mit. Und ich glaube, das werden sie tun, so lange ich lebe.
Text: Dagmar Steigenberger
Schichtbild: Annette Roemer mit Fotos von Comfreak und Free-Photos, Pixabay
* Auszug aus Tahir Shah, “In Arabian Nights”
„Diese Geschichten sind technische Dokumente, gleichsam Landkarten oder eine Art Blaupause. Worum es mir geht, ist den Menschen zu zeigen, wie die Landkarten zu verwenden sind, weil sie es vergessen haben. Man mag denken, das sei eine seltsame Art zu unterrichten – mittels Geschichten – doch genauso ging vor langer Zeit die Weitergabe von Weisheit vor sich. Jedermann wusste Bescheid, wie einer Geschichte Weisheit zu entnehmen war. Man war in der Lage, durch die Schichten zu blicken, in der gleichen Weise, wie man in einem Eisblock einen gefrorenen Fisch sieht. Diese Kunstfertigkeit ist in der Welt, in der wir leben, verloren gegangen, eine Kunst, die es früher einmal ganz bestimmt gegeben hat. Man hört die Geschichten und mag sie, weil einen die Geschichten unterhalten und Wärme spenden. Aber man vermag nicht, durch die erste Schicht hindurch ins Eis zu blicken.
Die Geschichten sind wie ein nettes Schachbrett; alle wissen wir, wie Schach gespielt wird, und wir können uns in einem Spiel wiederfinden, das so kompliziert wird, dass es unsere Möglichkeiten erschöpft. Doch man stelle sich vor, dass einer Gesellschaft über die Jahrhunderte hinweg das Spiel abhanden gekommen ist und dann das feine Schachbrett und seine Teile gefunden werden. Alle werden zusammendrängen, damit sie es sehen können und es loben. Keinesfalls kann sich einer vorstellen, dass so ein feines Objekt jemals einem anderen Zweck gedient haben soll, als die Augen zu unterhalten.
Der innere Wert von Geschichten ist in der gleichen Weise verloren gegangen. Es hat einmal eine Zeit gegeben, da hat es jeder gewusst, wie sie zu spielen sind, wie man sie entziffert. Aber nun sind die Spielregeln verloren gegangen. Es liegt an uns, den Menschen zu zeigen, wie das Spiel geht.“
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