Sturmhexe

Die Sturmhexe fegt die letzten Blätter von den Bäumen. Auf ihren unkontrollierten Böen reitet sie übers Land und nichts ist vor ihr sicher. Überhaupt gar nichts.

Sie lauscht den wohl gesprochenen und gut gelernten Sätzen, die das Dunkle einladen. Verstorbenen werden Teller und Gläser bereitgestellt, Kürbislichter sollen die Nacht erhellen und der lichte Vorhang zur Anderswelt weiß um seinen Einsatz. Festgezurrt ist er, in harzigen Räucherschwaden.

Die Sturmhexe kneift die Augen zusammen und schlüpft pfeilschnell in ihr schwarz-schillerndes Närrinnengewand. Schon geht es los. In atemberaubenden Kapriolen fliegt sie in die beginnende Nacht. Mit wildem Schalk bläst sie die Kerzen aus. Keine Zeremonie und kein Ritual kann das Abrupte mildern.

Sie ist in ihrem Element. Mit Haut und Haar.
Eine schwarz-schillernde Närrin.

Jede Wiederholung erstickt im Keim. Geschichten – schon hundert Mal erzählt – schlüpfen aus ihrer Verlässlichkeit. Heute Nacht wird im Dunkeln gewürfelt. Ermächtigungen werden zum Kartenhaus.

Der Sturm jubelt und entfacht das Feuer. Gefolgt von dem rostigen und verbeulten Kessel.

Ich werde hineingezogen in diese schwarze Nacht, zu dieser verwirrenden Sturmhexe und in eine zunehmende Orientierungslosigkeit. Ein warmes Fell streift meinen Arm, hinter mir höre ich Schritte – dann ist es wieder ruhig. Im Kessel brodelt irgendetwas. Ich bin nicht allein. Glaube ich. Dann wieder eine Sturmböe. Irgendwo scheppernde Geräusche. Meine Instinkte schärfen sich – das Dunkle bekommt etwas Lauerndes.

„Einen Neuanfang wollt ihr, euren Ahninnen und Ahnen begegnen, morgen mit stimmungsvollen Fotos und community-heischenden Sätzen dem Dunkelmondfest huldigen, den lichterkettigen, zimtduftenden und nach Ältesten rufenden Norden bereits im Blick??? – Nichts da! Heute wird im Dunkeln gewürfelt. Alles kommt in meinen Kessel!“

Die schwarz-schillernde Närrin fegt durch die Lüfte. Sie hat alles im Blick.
Und schon geht es los:
Wunderschöne und hochwirksam-magische Amulette, kunstvolle und äußerst heilige Hausaltäre, zur Erleuchtung erworbene Sitzkissen, nur für Ausgewählte bewährte Schutzrituale, in Granit gemeißelte Clanzugehörigkeiten, Social-Media-Profile inklusive aller jemals erworbenen Likes, selbst zusammengenagelte SchamanInnen-Podeste, Initiationszertifikate, entzückend einfache und saalfüllende Überzeugungen, 100% keltische Einweihungsriten, matriarchales Upgrading nach dem Frühstück, jeglichen Schrecken bändigende, planetenscharfe Transformations-Analysen, regenbogensichere Gebärmutterheilung, kakaobasierte Befreiungsekstasen, hochkomplizierte Ritualrezepte, perfekt durchgegenderte und an Diversität in den Wahnsinn treibende Identitätsrüstungen …

Nichts ist ihr heilig!
Jetzt noch alle Trommeln und alle Rasseln.
Der Kessel faucht und brodelt – im Funkenflug sehe ich schemenhaft die Närrin.

Dann ist es ruhig. Mein Herz pocht und ich stehe immer noch aufrecht. Das überrascht mich. Wieder streift ein warmes Fell um meine Beine. Nur ein Hauch an Berührung.

Alles ist weg. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Was führt diese dunkle Nacht im Schilde? Mein Atem wird regelmäßiger und fühlt sich auch freier an. Sogar befreit. Von was?

Gefallen zu wollen?

Ich überprüfe es. Ja, es gibt dieses Sich-Vergleichen mit anderen, ebenso mitunter scharfzüngige Bewertungssalven, auch das altbekannte Aufflackern des Nicht-zu-Genügen, mit daraus folgenden ausgeklügelten Anpassungsvarianten …

Das Loslassen bekommt einen bitteren Geschmack. Immer noch stehe ich aufrecht und hinter meinem Rücken formt sich eine sanfte Kraft. Sie sind gekommen, sind einfach da – meine Ahninnen und Ahnen! Genau jetzt. Was für ein warmes und wunderbares Glück.

„Geh weiter. Laß dich nicht narren von den alten Geistern. Geh weiter …“, wispern sie. Heute wird im Dunkeln gewürfelt.

Jetzt verstehe ich es und eine erfrischende Leichtigkeit durchströmt mich. Das Geschenk dieser schwarz-schillernden, stürmischen und närrischen Sturmnacht ist die Einfachheit!
Das Einfache ist frei. Aufrecht. Klar. Mutig. Alternativlos. Zutiefst mit allem verbunden. Einfach so.

„Na also, geht doch.“ Die schwarz-schillernde Närrin stürmt in mein seliges Erkennen. „Hast also dein Ego-Gerümpel brav in meinen Kessel geworfen.“

Dann schaut sie mich an. Wirft den Kopf in den Nacken und bricht in schallendes Gelächter aus.

„Du kannst natürlich auch“, japst sie, „die erste und einzige, von mir höchst persönlich initiierte Schwarzwürfel-Schamanin der Welt sein.“

Sie kringelt sich vor Lachen.

„Und noch was. Mit dem Ego-Zeugs ist es wie mit den Wollmäusen unterm Bett. Es kommt immer wieder.“
Sie steckt mir 3 schwarze Würfel in die Hosentasche.
„Super Staubsauger. Manchmal.“

Laut lachend stürmt sie davon. Und findet mal wieder, dass ihre Witze einfach die besten sind.

 

Autorin: Christine Kostritza
Schichtbild: Annette Roemer und robert1029 auf Pixabay

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Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Alexandra

    Liebe Christine, welche zaubermächtige, wilde und so weise Worte. Ich war gerade, auch wenn Tage später, am Kessel und mit in der Dunkelheit. Ich danke Dir sehr für diese scharfsinnigen unglaublich kraftvollen Worten und ja mit Fingerzeig – mal sanft – mal hart. Herrlich mein Glucksen und Kichern, als ich Deine Worte las und das zu früher Stunde. So dass ich einfach eine Nachricht an Dich hier hinterlassen musste. Grüß aus der Luft – Alexandra.

  2. Susanna

    Liebe Christine – wow! Wie geil ist die denn, die Sturmhexe, die fegt jedes kleine verschrumpelte Ego-Staub-Korn, das sich hinter der verhutzelnden alten FassadebedeckendWollenden Wohnzimmertapete sich zu verstecken versucht, auf!
    Und notwenig! Blöd und Entlavernd, dennoch Not-Wendig und Befreiend!
    Ich habe mit/bei Amathea aus dem Spinnerinnen Kreis die Befana als Begleiterin für die anstehende Rauhnachtszeit/Winterzeit ziehen dürfen – und die entspricht voll der SturmHöx!!
    Danke für dein InsWorteFassen des oftmals UnFassbaren!