Sinnierende Flachwurzlerin

Es mag brutal erscheinen, wie ich momentan durch den Garten rode, zurückschneide und ausdünne, aber ich habe den Eindruck, dass die Pflanzen teilweise regelrecht aufatmen.

Sie holen Luft, recken und strecken sich, weil sie wieder Platz bekommen haben, weil sie den Himmel wieder sehen, weil Licht auf ihre Blätter fällt.

Aufatmen, weil ihre eigene Last sie nicht mehr niederdrückt.

Ich habe früher nie oder sehr sparsam zurückgeschnitten; ich wollte die Pflanzen frei und wild wachsen lassen. Aber das waren Wildpflanzen, die bei mir eingezogen sind.

Vielleicht ist es mit vielen Pflanzen in unseren Gärten wie mit Haustieren, von Natur kann nur noch begrenzt die Rede sein.
Das Habitat ist anders als das Habitat ihrer Vorfahren, die Wasser- und Nahrungsversorgung ist gewährleistet, die stutzenden und dadurch stärkenden Fressfeinde fallen weg.

Eine Artemisia maritima hat keinen starken Meerwind mehr, der ihr um die Ohren fegt, keinen Salzhauch, der sich auf ihre Blätter legt, der Ginster steht nicht an einem steilen Berghang, der Sonne und der Kargheit ausgesetzt, dem Wetter, dem Wetterwechsel, Naturkräften, die ihn brechen oder stark machen, abnutzen und neu austreiben lassen.

Das sind Aufgaben, die der Mensch übernehmen muss, ähnlich wie bei den Tieren im Zoo.

Und gerade frage ich mich, wie es bei mir ausschaut, auch ich lebe ähnlich wie Tiere im Zoo oder Pflanzen in einem Park. Auch mein System ist dem Wetter, den Jahreszeiten, Dürren und Nöten nicht mehr ausgesetzt. Ich habe Nahrung, ich habe Wasser, ich habe warm.

Mein System wird anders gefordert, aber liess oder lässt mich das auch starke Wurzeln bilden? Vielleicht ja, vielleicht ein bisschen.
Vielleicht wachsen meine Äste etwas dicker und stärker nach, wenn mal wieder die elektronische Heckenschere des Lebens über mich drübergefahren ist.
Vielleicht sorgt ein Bulldozer der Marke «Shitty Life 8000» zuweilen dafür, dass meine Wurzeln etwas festeren Halt suchen, aber können sie das in einem konsumüberdüngten pampigen Boden?

Nach den letzten Jahren frage ich mich öfter, ob alles, was wir haben, auf Sand gebaut ist. Sand gemischt mit Düngergranulat. Dünger, welcher gerade mal die Symptome verschwinden lässt.

Es erscheint mir zunehmend fragil und zerbrechlich.

Wie gut haften unsere Wurzeln auf Sand?

Sind wir zu Flachwurzlern geworden, weil alles, was wir vermeintlich brauchen und konsumieren in der obersten Schicht zu finden ist?
Haben wir verlernt, in die Tiefe zu wurzeln? Vielleicht auch dahin, wo das zu finden ist, was wir wirklich brauchen?
Flache Wurzeln, zarte Saugwurzeln auf einem Sandboden, der auf eine Versorgung von Aussen angewiesen ist. Von oben regelmässig Düngung und Konsum.

Zurückschneiden können wir uns selbst, es läuft automatisch.

Wir haben gelernt, uns selbst zurechtzustutzen, die einen mehr, die anderen weniger, das Resultat jahrhunderterlanger Domestizierung. Wir schneiden uns zurück und haben uns dem Habitat angepasst.
Bei manchen passt es, andere wiederum wursteln sich mühselig durch, schaffen es zu überleben und vielleicht ab und an sogar ein Blatt und eine Blüte zu produzieren. Wie der kleine Stechapfel neulich: acht Zentimeter gross, ein Blatt und eine Frucht. Er hat sich durchgekämpft, er wird sein Erbe weitergeben können, er wird sterben.

Wir haben unser Habitat akzeptiert.

Manchmal, wenn ich überlege, welche Pflanze noch Substrat bräuchte, welche zu feucht, welche zu trocken hat, welche zu viel und welche zu wenig Licht abbekommt, frage ich mich, ob ich mein eigenes Habitat überhaupt kenne.

Wäre ich in der Lage, mein Habitat zu erkennen, wenn es vor mir liegt, wenn meine Füsse sich in die Erde graben?
Weiss ich, wie der pH-Wert meiner Erde sein muss, wieviel Mineralstoffe ich brauche, welche ich brauche, ob ich die Erde mager oder fett mag, ob ich es karg oder feucht bevorzuge?
Weiss ich, wie durchlässig oder fest meine Wurzeln es mögen?
Weiss ich, was ich brauche, um tiefe Wurzeln bilden zu können?

Ich glaube nicht.

Vielleicht werde ich mich selbst die nächste Zeit nach denselben Kriterien beobachten wie die Pflanzen.

Mal sehen, welches Substrat mir zusagt.

Autorin und Foto: Lina Engler

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Ursula

    Hat mich zum Nachdenken gebracht – danke vielmals.