Niemand

Der Regen trommelt am frühen Morgen auf das Dach unseres Wohnmobils. Erst leise, dann immer heftiger. Wir sind in Frankreich unterwegs, am Nordrand des Zentralmassivs. Seit Tagen hoffen wir auf besseres Wetter. Der Atlantik verspricht Sonne und Wärme. Also ab gen Westen!

Doch dann taucht ein kleines verwittertes weißes Schild mit durchbrochener schwarzer Schrift taucht auf: Pierres des Jaumâtres (Steine von Jaumâtres).

Eberhard schwenkt in die schmale Straße ein, bevor uns eine Entscheidung möglich ist. Es ist mal wieder eines von diesen typischen französischen Sträßchen, die Gegenverkehr nur schwerlich tolerieren. Wir steuern einen Parkplatz an. Es regnet immer noch.

Gut verpackt stapfen wir los. Ein Waldweg schlängelt sich nach oben. Vorbei an eigenwillig gewachsenen Bäumen, geschmückt mit langem, bärtigem Farn. Umgeben von weichen, tiefgrünen Moospolstern. Der Geruch ist wunderbar. Dann tauchen die ersten Steine auf. Und schon ist er da, dieser unausweichliche Bann, der solchen Steinen zu eigen ist. In ganz unterschiedlichen Gruppierungen sind sie auf dem Hügel verteilt. Der Regen und die stürmischen Windböen unterstreichen diesen mystischen Platz.

Weiche Rundungen, akrobatische Balanceakte, Steinmulden mit Wasser und Moos gefüllt, Gesichter und Fabelwesen, enge Spalten, durch die ich kaum hindurchpasse, feuchte Vulvaformen, überhängende Steindächer, die mir eine Regenpause erlauben …

Ich verweile an solch einem Platz mit Blick hinunter ins Tal. – Wie alt sie wohl sind, diese Steinwesen? Und wie wohl ihre Form war, bevor die kilometerdicken Gletscher sie so wunderbar geschliffen haben?

Ich lausche – falle in einen Zeitraum, den ich nicht denken kann. Gleichzeitig werde ich zu einem Winzling und dann noch kleiner und noch kleiner. Ein Nichts im Vergleich zu diesen ewig alten Steinwesen. Nicht mal sandkorngroß. Erstaunt stelle ich fest, dass mich dieser Zustand in eine Art Heiterkeit versetzt. Gepaart mit einer herrlichen Leichtigkeit.

Nanu, frage ich den Stein. Ich habe mir, wenn überhaupt, eher eine steingrundtiefe Geschichte erhofft.

Niemand … raunt es hinter mir. N I E M A N D – es fühlt sich an wie eine sanfte Schwingung. Eine Antwort der Steine? Ein Rätsel? Ein Spiel? Der Regen hat inzwischen aufgehört und ich krieche unter dem Steindach hervor.

Meine Leichtigkeit nimmt das „Niemand“ auf und ich spiele damit.

Ich bin niemand. Das fühlt sich erstaunlicherweise wunderbar an. Eine große Steinechse lädt mich ein, den Faden weiterzuspinnen.

Ich probiere das Gegenteil: Ich bin jemand.

Sofort erhöht sich die Spannung in meiner Rückenmuskulatur. Und die Leichtigkeit schnurrt zusammen.

Ich bin niemand! Die Spannung geht weg. Augenblicklich. Und die Beschwingtheit ist wieder da. Mein Hirn möchte am liebsten sofort loslegen und sich in weitverzweigte Analysen stürzen.

Nix da. – Es wird nicht gehirnt. Jetzt geht es erst einmal an den Atlantik.

Wir erleben eine traumhaft schöne Zeit. Mit herrlichen Wellen, Sonne und ersten Badetagen. Immer wieder taucht das „Niemand“ auf und es begleitet mich mit unveränderter Heiterkeit.

Die alten Steine haben mich nicht vergessen. Sie schicken mir einige Zeit später einen  Traum mit meiner allererste schamanische Reise, die ich vor einigen Jahren in einem Seminar gemacht habe. Ich hatte noch keine Ahnung von den 3 Welten, geschweige denn ein Krafttier oder eine Trommel. Die Reise ging in den Süden des Medizinrades, mit der Absicht, dem Sommermädchen in mir zu begegnen.

Noch jetzt spüre ich den schwarzen Pferdekopf, der seine Stirn an meine drückte. Ganz sanft. Damals rollten mir die Tränen über das Gesicht und mir wurde ganz heiß. Das schwarze Pferd ließ mir Zeit zu spüren. Dann wich es langsam zurück und da stand sie: mein Sommermädchen. Keck und voller Tatendrang. Die Haare offen, barfuß und in kurzen Hosen. Sie schwang sich auf den Pferderücken und schon war ich es selbst, die da oben saß. Diese Freiheit und Leichtigkeit werde ich nie vergessen. Ich ritt durch mein Sommer-Land. Weit und grün. Kleine Hügel und sprudelnde Bäche. Es gehörte mir und sonst niemandem.

Niemandsland – raunen mir die alten Steine zu.

Und dann kapiere ich es endlich.

„Ich bin NIEMAND“ ist eine Einladung. Eine Einladung in mein Sommer-Land. Ohne diese JEMAND in mir – die, die schon so viel weiß, ihre Geschichte hütet und deren Essenz mit vermeintlichen Identitäten verknüpft und natürlich denkt, ihr Sommermädchen in und auswendig zu kennen.

Nix da!

Mein Sommermädchen schwingt sich auf ihr Pferd und es geht schnurstracks ins Niemands-Sommer-Land. Voller Leichtigkeit und sprudelnder Heiterkeit.

Gibt es eigentlich Landkarten für das Niemands-Sommer-Land? Mais oui, aber klar, unendlich viele! Heute zum Beispiel ist es meine leere Hosentasche.

Autorin: Christine Kostritza
Fotos: Christine Kostritza und Eberhard Dederer

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