Narrenkäppchen

Was geschah, nachdem Rotkäppchen den Wolf gefressen hatte

Dies ist die Geschichte von Narrenkäppchen.

Früher hiess es Rotkäppchen, aber seit es den Wolf gefressen hatte, haben sich die Dinge geändert. Die Narrenkappe klimperte, wenn es durch den Wald ging, querbeet, versteht sich, denn die ausgetretenen Pfade hatte es längst verlassen.

Nun, da der Wolf in seinem Bauch war, war es gespannt, wem es begegnen würde, denn dem Wolf konnte es ja nicht mehr begegnen. Einstweilen pflückte es einen schönen Strauss Blumen. Vielleicht für die Grossmutter? Ja, die könnte es doch wieder einmal besuchen!

Es machte sich also auf den Weg, aber es kam nicht weit.

Denn schon wenige Bäume weiter schrie der Eichelhäher, und sein Ruf war so wüst, dass Narrenkäppchen stehen blieb.
«Eichelhäher, warum hast du so eine hässliche Stimme?» fragte es.

«Damit ich dich besser warnen kann», krächzte der Eichelhäher.
«Aber Eichelhäher, wovor willst du mich denn warnen?» fragte Narrenkäppchen.
«Vor dem bösen Wolf!»

«Aha. Nun, da brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen», sagte Narrenkäppchen, «den Wolf habe ich gefressen.»
Der Eichelhäher erschrak, denn wenn Eine den Wolf gefressen hat, musste sie ja noch gefährlicher sein als der Wolf selbst.
«Dann werde ich von jetzt an vor dir warnen!» schrie er.
«Ja, mach das!» lachte Narrenkäppchen, und ging weiter.

Als es zur Grossmutter kam, klopfte es an die Tür. Aber der Eichelhäher, der mitgeflattert war, schrie. Da meinte die Grossmutter, er warne sie vor dem Wolf, und öffnete nicht.

Narrenkäppchen klopfte wieder, aber noch immer blieb es im Inneren des Häuschens still, denn die Grossmutter hatte sich unter dem Bett versteckt und wagte kaum zu atmen.

Da rief Narrenkäppchen: «Grossmutter, mach auf! Ich bin es, deine Enkelin!»

Da aber der Wolf ein grosser Trickster war, und gerne Kreide ass, um seine Stimme zu verstellen, glaube ihr die Grossmutter nicht. «Ich habe dir Blumen mitgebracht!» rief Narrenkäppchen, legte sie vor die Tür und versteckte sich hinter einem Baum. Es musste lange warten, bis die Grossmutter vorsichtig die Gardine zur Seite zog und hinausschaute. Sie sah die Blumen auf der Schwelle liegen. Der Wolf hatte noch nie versucht, sie mit Blumen auszutricksen, aber man wusste nie… Weit und breit war niemand zu sehen, und so machte die Grossmutter hastig die Tür auf und nahm die Blumen an sich. In diesem Moment sprang Narrenkäppchen hinter dem Baum hervor, und sagte: «Siehst du, Grossmutter, ich bin es!»

Die Grossmutter erschrak furchtbar, fasste sich aber wieder, als sie sah, dass es nicht der Wolf war, und bat Narrenkäppchen herein.
«Du siehst irgendwie anders aus», sagte sie. «Wo ist denn das schöne rote Käppchen, das ich dir geschenkt habe?»
«Das hat der Wolf gefressen», antwortete Narrenkäppchen. «Und ich habe den Wolf gefressen, und mir eine neue Kappe gemacht.»
Die Grossmutter war entsetzt. Sie hatte gelernt, dass der Wolf kleine Mädchen und alte Frauen frisst, und dass das einzige Mittel dagegen war, immer auf dem rechten Weg zu bleiben und sich notfalls unter dem Bett zu verstecken, ja, am besten kaum noch zu atmen… Aber Narrenkäppchen lachte. «Diese Zeiten sind vorbei, Grossmutter! Ich gehe wohin ich will, und das solltest du auch tun, denn vor dem Wolf brauchst du dich nicht mehr zu fürchten. So ein Wolf im Bauch ist ganz gut, denn dann brauchst man sich vor gar nichts mehr zu fürchten. Vielleicht solltest du den Eichelhäher fressen. Der hat so eine laute, unüberhörbare Stimme, wo du doch immer so leise sprichst aus lauter Angst, dass man dich hören könnte.»

Die Grossmutter kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Irgendetwas schien vorgegangen zu sein in der Welt, das sie nicht mitbekommen hatte. Aber sie tischte Kuchen und Wein auf, denn irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es etwas zu feiern gab.

Kaum hatten sie angestossen, klopfte es. Die Grossmutter erstarrte. Aber da fiel ihr wieder ein, dass der Wolf ja jetzt seinen Platz gefunden hatte, und sie ging zur Tür. Trotzdem konnte sie es nicht lassen, einen raschen Blick durch die Gardine zu werfen: Draussen stand der Jäger. Der wieder!
Sie seufzte und machte auf.

«Ich habe Geräusche gehört und wollte nach dem Rechten sehen», sagte der Jäger und trat ein, und die Grossmutter lud ihn beflissen ein, Platz zu nehmen. Er setzte sich, liess sich Wein und Kuchen geben, und blickte irritiert zu Narrenkäppchen, das im Schneidersitz auf dem Stuhl sass, und sich den Kuchen von Hand in den Mund stopfte. Seit wann benahm sich das süsse kleine Mädchen so? Und diese alberne Kappe! Überhaupt: Irgendetwas an ihr war gewaltig seltsam, fast ein bisschen unheimlich… Aber Narrenkäppchen erwiderte seinen Blick mit funkelnden Augen und stiess plötzlich ein Geheul aus, das dem armen Jäger durch Mark und Bein ging. Dann lachte es, und stopfte sich das nächste Stück Kuchen in den Mund.

Der Jäger war etwas blass geworden und griff nach dem Weinglas. Er räusperte sich schliesslich und fragte, was es Neues gäbe, und ohne eine Antwort abzuwarten, legte er selber los: dass er seit Wochen hinter dem Wolf her sei, aber er finde nicht die kleinste Spur, der Wolf sei wie vom Erdboden verschluckt. «Nicht vom Erdboden- von mir!!» prustete Narrenkäppchen, und ein Regen von Kuchenkrümeln ging auf den Tisch und den armen Jäger nieder. Der sass wie vom Donner gerührt. Natürlich war das barer Unsinn, was dieses Gör da erzählte, aber gleichzeitig wusste etwas tief in seinem Inneren, dass es ganz genau so war.

Der Jäger war ein braver Mann. Er wusste, was richtig war und was falsch. Es gab Wölfe, und die sind gefährlich. Und es gab kleine Mädchen, und die sind süss. Und es gab Jäger, die kleine Mädchen vor den bösen Wölfen beschützten. Er war so ein Jäger, und er nahm seine Pflichten ernst. Wo kam man denn hin, wenn die Mädchen Wölfe frassen? Und was sollte dann aus den Jägern werden? Sollten die etwa aufs Arbeitsamt müssen? Oder mussten sie sich am Ende gar vor kleinen Mädchen fürchten, wenn sie ihnen allein im Wald begegneten?

Irgendwo in seinem armen Hirn, das nicht mehr wusste, in welche Richtung es rotieren sollte, brannte eine Synapse durch. Es sah jetzt auch gar nicht mehr das kleine Mädchen vor sich, sondern den Wolf, der in ihm war. Blindwütig packte der Jäger seine Flinte, zielte auf Narrenkäppchen und drückte ab. Eine Salve Schrotkugeln krachte über den Tisch hinweg. Aber der Wolf kam nun heraus und duckte sich rasch, und die Schrotkugeln landeten in der Wandvertäfelung.

Die Grossmutter schrie: «Um Himmels Willen, haltet ein!» Aber niemand hörte auf sie. Wieder legte der Jäger an, und der Wolf sprang mit gefletschten Zähnen auf ihn zu. Da packte die Grossmutter die Weinflasche und hieb sie dem Jäger auf den Kopf. Der sackte zusammen, und der Wolf versuchte mitten im Sprung abzubremsen und landete unbeholfen im Schaukelstuhl auf der anderen Seite des Tisches.

Narrenkäppchen schüttelte sich und lachte, und schaukelte ein bisschen hin und her. Der Eichelhäher, der alles durchs Fenster beobachtet hatte, klopfte mit dem Schnabel an die Scheibe, und sobald die Grossmutter mit ihren zitternden Knien wieder gehen konnte, ging sie hin und verschluckte ihn. Nie wieder sollte einer ihre Stimme überhören. Der Jäger aber, als er später wieder zu sich kam, wusste von nichts mehr. Aber er war ausgesprochen höflich, und er half der Grossmutter, die Hecken zu schneiden.

Text: Elisabeth Rolli
Foto: Valentin Salja unsplash
Und die geniale Kollage ist von Vera May Rolli

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Dieser Beitrag hat 13 Kommentare

  1. Kurt

    hihi, was für eine schöne Geschichte…

  2. Petra

    so toll, ich liebe deine Texte :-)) seid gegrüsst ihr Spinnerinnen!

      1. Michèle

        Was für eine tolle Geschichte! Die Geschichte passt zum aktuellen Potenzial der Zeit: ver-rückt, verdreht, neu, transformativ! Super geschrieben, liebe Elisabeth!

  3. Sophie

    Ooouuuuuuhh!! 🌕

    1. Elisabeth

      ooouuuuuhhh!!!

  4. Eine herrliche Geschichte, vielen Dank! Ich liebe es, wenn Märchen wieder neu leben dürfen. Und ich hab auch schon deine vorige Geschichte sehr gemocht.

  5. Michaela Kostritza

    Sehr witzige Interpretation des alten Märchens!
    Gut gelungen!

  6. Bellei Edita

    Hallo Alle Göttinnen
    Die Tanzenden haben mir extrem gefallen, und animiert meine eigene Fülle zum tanzen einzuladen ,bravo

  7. Bellei Edita

    Und dann die wundersam
    heitere Geschichte vom Narrenkäppchen, fantastisch, ich bin sehr vergnügt. Danke