Mater Materie – die Bürsten

hauchdünne Karottenscheiben nebeneinander geschichtet, die gegen das Licht fotografiert wurden. orangegelb leuchtende kleine Sonnen

Da sind zum Beispiel die Bürsten.

Als ich kürzlich am Spülbecken stand, fiel mir auf, wie genial Bürsten sind. Sie bringen auch das unwegsamste Chaos wieder in Ordnung. Sie entfernen aus dem engsten Winkel, was nicht dazu gehört und richten alle Teile wieder aus. Sie glätten die Wogen. Mit ihren vielen Borsten schaffen sie es, Ritzen und Risse auszuputzen. Sie geben nach, aber niemals auf. Sie entwirren, was durcheinandergekommen ist, meistens nicht beim ersten Mal, aber mit jedem Darüberstreichen spüre ich, wie die Knoten und Krusten kleiner werden. Und dann, wie durch ein Wunder, sind die Hindernisse weg. Als Spülbürsten, Haarbürsten, Zahnbürsten, Kleiderbürsten und Bodenbürsten erledigen sie jeden Tag die kleinteiligste, mühsamste Arbeit für mich.

Und nicht nur das. Ehe ich mich versehe, werden nicht nur die Knoten aus meinen Haaren gebürstet, sondern auch fremde Energien, die nicht zu mir gehören, überflüssige Gedanken, die überholt sind, ausgekämmt. Allein mit der Bürste und meiner Aufmerksamkeit und ganz ohne Meditation.

Und es gibt Karotten, besonders die frischen, zarten, aus denen noch einzelne, feine Würzelchen ragen. Für mich sind sie ein Geschmack der Mitte: nicht säuerlich und nicht salzig, etwas süß und nicht bitter. Sie enthalten Flüssigkeit, sind aber nicht wässrig, sie sind hart, aber gut zu kauen. Ich kann sie bequem überall essen, weil sie weder bröseln noch tropfen. Und sie knuspern beim Kauen wie Chips. Als Kind habe ich den äußeren Ring zuerst gegessen, denn das Innere der Karotte schmeckt noch süßer. Wenn ich es schaffte, Teile der äußeren „Rinde“ im Ganzen abzuschälen, konnte ich mit der Zunge die kleinen Spitzen spüren, da wo die Wurzeln ihre Saftbahnen hatten.

Auf den Flügeln meiner Dankbarkeit ehre ich die Karotte, die ich esse, egal ob Bio oder nicht, weil sie in jedem Fall ein wundervolles Wesen ist. Da ist eine Heiligkeit, die ganz ohne Ritual möglich ist.

Spätestens seit Platon sehen wir Menschen den Geist getrennt von der Materie und wir tun so, als sei das Geistige wertvoller und wichtiger als das Materielle. Das Weibliche wurde der minderen Materie zugeschlagen und das Männliche dem erhabenen Geist. Selbst spirituelle Menschen sehen Körperlichkeit und Materialität als beschwerend, einschränkend und hemmend.

Diese Haltung hat uns aktuell an den Rande des Zusammenbruchs geführt und gefährdet unser Überleben. Dabei wissen wir – wissenschaftlich bewiesen – seit über hundert Jahren, dass Materie eine Form von Energie ist.

Wir leben in einer dreidimensionalen, materiellen Welt und alles hier ist Materie gewordene Energie. Jeder Gedanke ist ein materieller, elektromagnetischer Impuls, jedes Gefühl ist eine chemische Reaktion.

Materie ist kein Abfallprodukt – sie ist die Mutter (Mater), die es uns erlaubt, für die Dauer unserer körperlichen Existenz in dieser Dimension zu leben und die Billiarden von sinnlichen Erfahrungen zu machen.

Meine Wahrnehmung wird zu tiefen spirituellen Erfahrungen, sobald ich ihr meine Aufmerksamkeit schenke.

Ich sehe es so: Jede echte Wertschätzung der Materie ist ein Ameisenschrittchen aus dem Patriarchat heraus. Diese Wertschätzung verhindert Verschwendung. Wenn ich Materie liebe, dann gebrauche und missbrauche ich sie nicht. Weil Materie heilig ist.

Mein Schlüssel dafür ist meine Wahrnehmung. Es lohnt sich, den Stuhl zu spüren, auf dem ich sitze und die Farbnuancen der Blätter zu betrachten, alle Geschmacksnoten des Frühstücksmüslis auszuloten, dem Geräusch meiner Finger auf der Tastatur zu lauschen.

Die Sinne bringen mich jederzeit in die Gegenwart, heraus aus meinen Mustern und Gedanken, direkt in den Schoss der Mutter, ins Hier und Jetzt.

Autorin: Thea Unteregger
Foto: Andreas Schütz

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