
Eine laue Brise, ein schriller Pfiff und eine Welt im Wandel
Florida, Sunshine State. Ein lauer Wind trägt den Duft von Salz und Sonnencreme über die Promenade vor der SunnySide Residence.
Lolla und Edi sitzen auf ihrer Lieblingsbank mit Blick aufs Meer, wie jeden Nachmittag. Vor ihnen flanieren Jogger, Mütter mit Eis schleckenden Kindern, Skateboarder – und zwei junge Frauen, kichernd, ineinandergehängt, mit wehendem Haar, die eine im luftigen Kleidchen, die andere in HotPants, um ihre Beine von der Sonne getönt zu bekommen.
Und dann passiert es.
Ein schriller Pfiff.
Die beiden erstarren.
„Was war DAS?!“ Die eine fährt herum, entsetzt. „Das ist sexuell übergriffig und verletzt uns.“
Edi ist perplex. „Ma come … Lolla … früher, in den 50ern … das war doch normal! Denk an Marilyn! An Tony Curtis und Jack Lemmon in dem Filmklassiker! Denk an die Golden Fifties! Männer haben gepfiffen, wenn sie eine schöne Frau gesehen haben – und die Frauen, sie haben es genossen! Das war doch eine Anerkennung!“
Lolla verdreht die Augen und seufzt. „Edi … amore mio …“
Edi sieht die jungen Frauen an, ihre empörten, wütenden Gesichter, so fest in der eigenen Moral.
„Wir hatten nichts.“ Seine Stimme ist leise. „Unsere Eltern hatten nicht die Kraft, uns zu sagen, dass wir schön sind, dass wir toll sind. Ein Pfiff war oft das Einzige, was wir bekommen haben.“
Die Wortführerin verschränkt die Arme. „Ja, früher. Willkommen in 2025.“
Und plötzlich sitzt da nicht nur ein alter Mann in seinem karierten Jackett, seine Cordhose mit Hosenträgern festgehalten, sein Outfit, das er immer trägt, weil er in solchen Kleidungsstücken Halt findet.
Nein, plötzlich sitzt da ein Junge aus einer Familie, die einst mit dem Schiff aus Sizilien nach New York kam, weil zuhause nichts mehr war außer verbrannte Felder und leere Teller. Ein Junge, dessen Vater nicht über den Krieg sprach, dessen Mutter nie über das Weinen in der Nacht redete. Ein Junge, der sich Wertschätzung zusammenklaubte aus dem, was blieb – aus Liedern, aus Filmen, aus kurzen Blicken auf Frauen, die von Weitem schön waren, weil Schönheit das Einzige war, das unberührt blieb von der Armut.
Und neben ihm sitzt Lolla, das Mädchen, das einmal Carola war. Die Carola mit den ungarischen, polnischen und deutschen Wurzeln, die in einem Nachkriegseuropa aufwuchs, das Frauen in Trümmerfeldern schuften ließ, an der Seite von Männern, die nicht reden konnten. Eine Generation, in der niemand wusste, wie man einem Kind sagt, dass es wertvoll ist. Eine Generation, in der niemand wusste, wie man Liebe zeigt – außer durch Gesten, vielleicht bestenfalls durch ein Augenzwinkern, in einer Welt, die nur in Filmen Romantik kannte.
Und Lolla, Lolla, die mehr gesehen und erfahren hat, als sie jemals erzählen kann, die mit ihren ewigbleibenden 80+ Jahren immer noch Glitzer auf den Lidern trägt, lehnt sich zurück und sagt: „Vielleicht seid ihr zu streng.“
Die jungen Frauen sehen sie an.
„Ihr wisst, dass die Welt aus den Fugen geraten ist. Dass wir in einem neuen Zeitalter des Umbruchs leben. Wir haben das alles schon gesehen. Die alten Systeme brechen, die Gewalt kehrt zurück, die Moral wird schärfer. Und wenn alles in Trümmern liegt, urteilen die Menschen härter. Sie wollen klare Linien ziehen. Sie wollen die Monster benennen, um sich selbst zu retten. Und manchmal ist das gut. Und manchmal ist es zu hart.“
Stille.
„Ich verstehe euch. Ihr habt das Recht, nicht bewertet zu werden. Ihr wollt anders gesehen werden als unsere Generation. Aber wisst ihr, was ich mich frage?“
„Was?“
„Was bleibt euch? Wenn wir alles ausradieren, was früher war – die Gesten, die Blicke, die Komplimente … Wie ist es dann, mit dieser Wunde, dem Wunsch gesehen zu werden?“
Die eine denkt kurz nach. Dann antwortet sie fest: „Authentizität. Echtsein. Mutig zu sich selbst stehen, auch wenn der Körper nicht perfekt ist. Sich so kleiden, wie wir wollen – ohne Angst zu haben, dass jemand denkt, das ist eine Einladung.“
Lolla lächelt sanft. „Das ist schön. Und herausfordernd, das so zu leben, tagtäglich, ja, oft schwerer, als ihr denkt.“
Die beiden nicken langsam.
„Okay. Aber lassen Sie’s trotzdem bleiben.“
Edi grinst schief. „Okay.“
Sie drehen sich um und ziehen weiter.
Edi lehnt sich zurück und schüttelt den Kopf. „Ich versteh die Welt nicht mehr, Lolla.“
„Das musst du auch nicht, Edi. Du musst nur lernen, mit ihr zu gehen.“
Er will etwas erwidern, doch in dem Moment – ein flirtender Pfiff aus einer anderen Richtung.
Annabella, die Golden Lady aus Room 212, die schon immer – quasi versteckt und dennoch nicht unbemerkt von Lolla – ein oder zwei Augen auf Edi geworfen hat, lehnt in der Hotellobby und zwinkert Edi kokett zu.
Lolla grinst und stupst ihn an. „Na siehst du, amore mio … vielleicht hat sich nicht ALLES geändert.“
* * *
Es ist wichtig zu betonen, dass solche Überlegungen keinesfalls die Erfahrungen von Opfern sexueller Gewalt oder Mobbings relativieren sollen. Vielmehr geht es darum, ein tieferes Verständnis dafür zu entwickeln, wie vergangene, oft unverarbeitete Traumata unsere heutigen Reaktionen und Bewertungen beeinflussen können.
Quintessenz – Die Medizin für unsere Zeit:
Vielleicht ist die Antwort nicht, alte Muster zu verteufeln oder neue Moral ohne Verständnis durchzusetzen, sondern miteinander in den Dialog zu treten.
Wahre Veränderung geschieht nicht nur durch Strenge und Ausschluss, sondern durch Verständnis und Entwicklung.
Wenn wir Brücken bauen, statt Gräben zu vertiefen, entsteht eine neue Form der Wertschätzung – eine, die die Vergangenheit anerkennt, aber die Zukunft mit offenen Augen gestaltet.
Autorin und Kunststück: (c)LaSüsü – Susanna Amberger
LifetimeStories über die großeLiebe im Alter, aus der SunnySideResidenz im SunshineState of Florida.
#LollaTheShowGirl #altwerden #älterwerden #seniorenresidenz #lifetimestories
Dir gefällt was wir machen… dann bring uns ins Netz. Danke
Soooo schön, soooo berührend und soooo zutreffend
Danke von <3