Kann man einen Ort lieben? Einen Berg. Einen Bach. Einen Baum. Kann man ihn vermissen? Ja. Wenn man verbunden ist.
Die Geschichte beginnt beim Chalet im Schattenberg.
Meine Mutter und ich stehen vor dem Haus, schauen in den Klee, der zwischen den Kieselsteinen herauswächst. Bei diesem Anblick denken wir immer an Elsa. Ihre Mutter, meine Grossmutter. Sie erinnern sich vielleicht. Sie hatte die Gabe, in einem Kleefeld, das Vierblättrige zu finden. Nun soll meine Patentochter diese Gabe haben, wie Mama erzählt. «Ich finde nie eines», sag ich, blicke zu meinen Füssen und: «Aber da ist eines!» Ha! Tatsächlich. Ein kleines Kleeblatt mit vier herzförmigen Blättern. Ich pflücke es und lege es in mein Notizbuch. Dann mache ich mich auf in den Wald.
Nun, da ich das Glück in der Handtasche bei mir trage, hat sich etwas in meinem Energiefeld verändert. Da ist dieses Vertrauen, dass sich alles fügt, wie es soll. Ich lasse es geschehen, das Leben. Überlasse es meiner Intuition. So wende ich mich von meinem ursprünglich geplanten Weg ab und demjenigen zu, der mich lautlos ruft.
Ich komme auf eine Lichtung. Dort stehe ich ehrfürchtig vor zwei uralten Zirbelkiefern mit mächtigen Wurzeln, denen der verheerende Schneefall vom April nichts anhaben konnte. Weiter oben, in der Wiese, sehe ich eine weitere, deren Äste auf der Erde liegen. Gebrochen unter der Last des schweren Schnees. Es zieht mich zu ihr hin. Beim Näherkommen rieche ich bereits den Duft des frischen Harzes, das an den Bruchstellen austritt. Ich berühre es. Klebrig. Aber mmmh, wie gut das riecht. Jetzt, da ich vor den aufgehäuften Ästen stehe, spüre ich den Drang, mich hineinzulegen in diesen Asthaufen, der aussieht wie ein überdimensionales Nest. Ich gebe dem Gefühl nach. Kaum habe ich es mir bequem gemacht, überkommt mich eine erfüllende Ruhe. Mein Körper berührt die Erde nicht, ich schwebe beinah, bin getragen von den Ästen. Gehalten. Geborgen. Der Abendwind lässt die langen Nadeln sanft über meine Wangen streichen. Ich bin willkommen. Ich schliesse die Augen und eine tiefe Entspannung überkommt mich.
Ich weiss nicht, wie lange ich da liege. Zeit spielt keine Rolle. Ich bin. Alles ist. Eins. Ich fühle mich so verbunden mit dem Baum, dem Ort. Ich höre, wie er leise zu mir spricht. Nicht in Worten. Aber ich empfange seine Nachricht. Wir kommunizieren auf einer anderen Frequenz. Vielleicht zu vergleichen mit Liebenden, die beim Blick in die Augen des anderen Gedanken lesen können. Ja, der Vergleich passt. Denn ich liebe den Wald. Jeden Wald. Aber diesen, den kenne ich. Und er kennt mich.
Dieses Gefühl … Mit einem Ort so verbunden zu sein, dass du ihn vermisst, wenn du längere Zeit nicht da bist. Ein Ort, den du selbst im Dunkeln begehen kannst, ohne zu stolpern. Ein Ort, der Erinnerungen widerspiegelt, dir Heimat ist, dessen Sprache du verstehst, dessen Klänge du kennst.
Wer weiss, wovon ich spreche, wird auch verstehen, wie schmerzhaft es sein muss, einen solchen Ort verlassen zu müssen, zu verlieren. Ich kann es mir kaum vorstellen. Aber ich fühle mit all denen, die es erleben müssen.
In Verbundenheit mit den Menschen aus Blatten und dem Lötschental.
Autorin und Fotos: Luciana Brusa
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