Gelassen älter werden

Die Alte steht entspannt in der Bildmitte, wir sehen sie im Profil, genau genommen zeigt sie uns ihre linke Seite. Ihre Haltung ist auffallend aufrecht, sie wirkt geerdet, mit sicherem Stand. Den lilafarbenen Stock, auf den sie sich locker mit beiden Händen aufstützt, scheint sie gar nicht zu benötigen. Sie trägt Bluse und Rock und auf dem Kopf einen Hut, eine Art Schlapphut, der Bändel, mit dem man ihn unter dem Kinn festmachen kann, hängt locker herunter.

Sie hat die Augen geschlossen, jedenfalls das linke, das rechte sehen wir ja nicht. Der Mund nur ein Strich, dennoch wirkt ihr Gesicht mit den feinen Falten zufrieden und hat etwas beinahe Süffisantes, als ginge ihr gerade etwas durch den Kopf, das sie leicht amüsiert.

Das Bild von Brigitte Meßmer trägt den Titel „Gelassen älter werden“. Vielleicht ist es diese Gelassenheit, die von der alten Frau ausgeht. Aber was ist mit der Umgebung, in der sie steht? Der Hintergrund ist eine Fläche von schmutzigem Türkis, das gelegentlich ins Grau übergeht. Und vor diesem Hintergrund sehen wir Schalen, Müslischalen ähnlich, die neben und hinter der Alten im Raum zu schweben scheinen, der Inhalt eine milchige Flüssigkeit. Einige sind voll, andere halbvoll. Die meisten der Schalen sind leicht gekippt und ihr weißer Inhalt ergießt sich in dünnen Fäden nach unten.

Wofür stehen diese Schalen und diese Flüssigkeit, die sich durchs Bild ergießt? Ist es surreal oder doch eher symbolisch gemeint? Den entscheidenden Hinweis geben uns Textfragmente, im Bild wie eingeritzt. Sie stammen aus dem „Gebet des älter werdenden Menschen“, den Teresa von Àvila vor 500 Jahren verfasst hat. Da heißt es beispielsweise: „Bewahre mich vor der Einbildung, bei jeder Gelegenheit und zu jedem Thema etwas sagen zu müssen.“ Oder auch: „Erlöse mich von der großen Leidenschaft, die Angelegenheiten anderer ordnen zu wollen.“

Vielleicht stehen diese Schalen also für alles, was wir im Laufe unseres Lebens an Erfahrungen, Wissen und Können angehäuft haben und das wir so gerne weitergeben, egal, ob es überhaupt erwünscht ist oder nicht. Dieses Bedürfnis, unsere „Weisheit“, unsere gefüllten Schalen in die Leben der anderen zu gießen, unsere Erfahrungsschätze, die wir weitergeben möchten. Dabei könnten wir einiges genauso gut für uns behalten. Bei Teresa von Àvila klingt das dann so: „Lehre mich schweigen über meine Krankheiten und Beschwerden. Sie nehmen zu, und die Lust, sie zu beschreiben, wächst von Jahr zu Jahr.“

Ja, es geht nicht nur um die Weisheit des Alters, sondern auch um die Last des Älterwerdens. Und dennoch überwiegen die positiven Aspekte. So wie der Gedanke, dass es nicht ausschließlich um uns geht, sondern mindestens in gleichem Masse um die anderen: „Lehre mich, an anderen Menschen unerwartete Talente zu entdecken, und verleihe mir die schöne Gabe, sie auch zu erwähnen.“

Dieser schöne Gedanke, wie auch die anderen Wünsche aus dem Gebet, gehen der Alten wohl durch den Kopf, wenn sie mit geschlossenen Augen so dasteht, ruhig und gelassen. Sie scheint mit sich im Reinen zu sein. Sie lässt einige ihrer Schalen fließen, andere schweben ruhig im Raum. Diese alte Frau kennt das befreiende Gefühl loszulassen. Aber wer weiß schon, was in ihrem Kopf, im Kopf der anderen vorgeht? Vielleicht ist es auch ganz anders. Oder wie es Teresa von Àvila sagt:

 „Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass ich mich irren kann.“

 

Bild: Brigitte Meßmer
Text: Peter Indergand

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  • Beitrags-Kategorie:Galerie / Magazin
  • Lesedauer:5 min Lesezeit
  • Beitrags-Kommentare:Ein Kommentar

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Michèle

    Was für ein wunderbarer Text und was für ein wunderbares Bild! Zum immer wieder Betrachten und Lesen! Danke, liebe Brigitte! Danke, lieber Pit!