Frau vom Hohle Fels

Eine prähistorische Gebrauchsanleitung für die Verbundenheit über die Zeiten hinweg

Vor ein paar Jahren habe ich mich voller Vorfreude aufgemacht, in der Nähe von Ulm die Frau vom Hohle Fels zu besuchen. Am Nachmittag fand auf der Wiese vor dem Hohlen Fels, ihrer Höhle, wo sie einst gefunden worden ist, ein grosses Frauenritual vom Rat der Grossmütter fand statt und danach sogar noch ein sphärisches Konzert in der Höhle.

Und dann, am nächsten Tag, der Besuch im Urgeschichtlichen Museum in Blaubeuren, wo die Frau vom Hohle Fels ausgestellt ist.

Auf der Website des Museums lese ich: „Die „Frau vom Hohle Fels“ ist eine sechs Zentimeter grosse Frauenfigur, die 2008 in Süddeutschland gefunden wurde. Sie ist aus Mammutzahn gefertigt und schätzungsweise 40.000 Jahre alt. Dadurch ist die Venus vom Hohle Fels, wie sie auch genannt wird, die bisher älteste bekannte und von Menschenhand geschaffene Frauenfigur.“

Als man sie fand, war sie in mehrere Teile zerbrochen, wohl als Folge ihres langen Aufenthalts im Erdreich. Sechs Fragmente konnten zu einer fast vollständigen Figur zusammengefügt werden. Interessant ist: Anstatt des Kopfes befindet sich im Halsbereich eine Öse. Der Grund dürfte sein, dass die Venus vom Hohle Fels einst als Amulett oder Schmuckstück getragen wurde.

Ich erschrak, als ich sie da sah: hinter einem runden, dicken Panzerglas, ohne Tageslicht, dafür unter einem exakt ausgerichteten Scheinwerfer mit blinkendem Sicherheitslicht, ohne Frischluft, dafür mit protokolliert-kontrollierter Luftfeuchtigkeit, bodenlos auf einem Ständer aufgesteckt!

Aufgesteckt!
Ausgestellt!
Blossgestellt!

He – wo bist du?
Wer?
Wie?

So bist du unerreichbar für mich!

Natürlich muss man einen solch wertvollen Schatz gründlich schützen, aber… – Gerne hätte ich das uralte Weib aus ihrer misslichen Lage befreit, sie entführt, zwischen meinen Brüsten gewärmt, ihr bei mir zu Hause eine Höhle gebaut!

Ich floh aus dem Raum und fand nebenan viele weitere Frauenstatuetten, nur Replikas, nachgemacht, aus Kunstharz. Doch die konnte ich anfassen (hätt ich wohl auch nicht dürfen?).

Da man mir in meiner Kindheit nicht oft gesagt hat: nid chafle! (berndeutscher, despektierlicher Ausdruck für anfassen), habe ich früh gelernt, dass meine Hände, wenn sie „chaflen“, die Wesen auf einer weit wesentlicheren Ebene begreifen, als wenn ich sie nur anschaue.
Das taktile Erlebnis bei den künstlichen Replikas im Nebenraum des Museums hat bei mir einen anderen Eindruck hinterlassen als der Anblick der ausgestellten, eingesperrten Frau vom Hohle Fels. Und da ich diese unsere Urahnin nicht aus ihrem Panzerglas habe entführen können, bin ich heimgegangen und habe angefangen, sie aus einem Klumpen Mutter Erde mit meinen blossen Händen zu modellieren.

Ich streichelte sie zart mit den Fingerkuppen und habe ihr so Form gegeben. Ihre Ritzen und Kratzspuren habe ich mit meinen Fingernägeln nachgezeichnet und bei Details, die ich nicht habe sehen können in Blaubeuren, da habe ich meine Hände machen lassen.
Fertig modelliert hab ich ihr Atem eingehaucht und sie so in meiner Zeit aufleben lassen.

Nach dem Brennen habe ich in ihre Öse einen Lederbändel eingezogen und den so verknotet, dass ich ihn kürzer und länger richten kann. So habe ich mir die Frau vom Hohle Fels umgehängt.

Hier füge ich eine andere Geschichte ein:

Mein Kind, damals ungefähr 5-jährig, sitzt mir auf dem Schoss und tastet mich ab. Meine Brüste kennt es noch, aber oberhalb, dieser harte Stecken da:
Mama, was ist das?
Das ist ein Schlüsselbein.
Aha.
Es tastet weiter.
Und da?
Das ist das andere Schlüsselbein.
Aha.
Und dazwischen, dieses weiche Loch?
Oh, da weiss ich eigentlich auch nicht so genau, wie das heisst…
Mein Kind:
Aber ich weiss es: das ist das Schlüsselloch!

Die Frau vom Hohle Fels habe ich mir also umgehängt und den Lederbändel so gerichtet, dass sie genau in meinem Schlüsselloch liegen konnte.

Da lieh sie mir ihren Körper.
Oder war‘s umgekehrt und ich gab ihr meinen Kopf?
War mein Kopf nun ihrer?
Oder ihr Körper meiner?
Und mein Kopf unsrer?

Mir drehten diese Gedanken im Kopf herum und ich beneidete sie um ihre Kopflosigkeit. Aber nein, sie hatte ja nun meinen, wir nutzten ihn beide. – Oder sie wirkte in meinem?

Offenbar war es für die Menschen vor 40 000 Jahren keine so komplizierte Sache, sich mit einem anderen Wesen zu verbinden.

Wikipedia weiss: „Die Beine sind kurz, spitz und asymmetrisch. Auffällig sind des Weiteren die kurzen Arme und die sorgfältig geschnitzten Hände, die unterhalb der Brüste auf dem Bauch liegen. Ob diese Handhaltung in den Augen der altsteinzeitlichen Träger der Figur eine besondere Bedeutung hatte, ist unbekannt…“

Ich stelle ich mich so hin wie sie.

Die Beine breit, die Hände unter den Brüsten.
Aber meine Brüste – öööhm – sind ja nicht grad wie ihre.
Ich messe sie aus:

Ihr Schultern sind 4 cm breit, meine 40cm. Ich bin 10-mal grösser.
Ihre Brüste sind 3,5 cm. Mal Faktor 10 müssten meine Brüste 35 cm sein…

Ich messe.
Staune.
Halte meine Hände da hin, wo ihre Brüste hinkommen. In Gedanken verbinde ich meine Brüste mit meinen Handinnenflächen. Schliesse meine Augen und werde wie sie.

Sie ist nicht mehr hinter Panzerglas.
Sie ist hier.
In mir.
Ich werde wie sie.
Ich werde sie.
Bin sie.

– Machst du mir die Frau vom Hohle Fels auch mal ohne Loch?
– Nööö!
– Wieso nööö?
– Einfach, weil die Frau vom Hohle Fels ein Loch hat. – Immer schon hatte.

Schon vor 40.000 Jahren, lange vor der letzten Eiszeit, als auch hier noch grosse Rentierherden übers Land zogen, da ist sie aus Mammutelfenbein geschnitzt worden mit ihrem Loch.

Ich habe inzwischen von meinem Kind, das nun gross und medizinisch geschult ist, gelernt: das Schlüsselloch heisst eigentlich Fossa jugularis.

Autorin: Regula Kaeser-Bonanomi
Fotos: Wikipedia, Regula Kaeser-Bonanomi, Annette Roemer

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