Ein Tänzchen hinterm Schwarzdorn

Wie eine Feenkönigin einst sagte: «Der gerade Weg führt nirgends hin. Nur wissen das die Menschen nicht.»

Wo steht dein Briefkasten? Im Treppenhaus? Vor der Haustür? Am Gartenzaun? Meiner steht ungefähr 500 Meter vom Haus entfernt. In gemütlichem Schritttempo kann ich in fünf Minuten dort sein. Wenn ich den geraden Weg gehe. Nun, du kennst mich vielleicht noch nicht gut genug, um zu wissen, dass ich nicht diesen, sondern einen Umweg nehme. Nur so kann es geschehen, dass der Gang zum Briefkasten in ein Abenteuer führt.

Eine Weile folge ich dem Huflattich, der wie kleine, strahlende Sonnen am schattigen, feuchten Strassenrand wächst. Deswegen nennt man ihn im Wallis auch «Sandmeiji». Die Blüten und Blätter des Huflattich mit kochendem Wasser übergossen ergeben einen heilsamen Hustentee oder ein schmerzlinderndes Fussbad.

Ein Stück weiter locken die bescheidenen Veilchen weg von der Strasse. Violett leuchtend strecken sie ihre Köpfchen aus dem dunklen Grün. Ihr Geruch erinnert mich an Grossmutters Veilchen-Bonbons, von denen nur sparsam genascht werden durfte. Dieses Jahr wachsen zwar mehr, aber doch zu wenige, als dass ich sie bloss für Veilchenzucker pflücken möchte. So verlasse ich den Pfad. Querfeldein. Lasse mich von Aphrodites Tränen leiten. Die glockenblumenartigen, feinbehaarten Kuhschellen zeigen magische Plätze an, wie meine Kräuterhexen-Freundin sagt. Sie führen mich zu einem zarten Duft. Ihm folgend gelange ich zu einem weiss blühenden Schwarzdorn.

Aufgepasst! Hinter der Schwarzdornhecke beginnt das Reich der Feen und anderen Unterirdischen. Dort wird Unmögliches möglich. Besser nicht zu nahe rangehen. Doch die stark duftenden, zierlichen Blüten ziehen mich an. Näher. Noch näher. Da raschelt es im Gestrüpp. Etwas Grünes huscht durch die alte Bruchsteinmauer. Eine Smaragdeidechse? Ich würd’ sie gern aus der Nähe betra… Husch! Da ist sie schon über die Mauer, hinter die Hecke. Ich, alle Vorsicht vergessend, hinterher.

Na nu! Was jetzt? Alles um mich herum scheint wie verwandelt. Schleierhaft. Ich höre ein Klingeln. Es kommt von den Schlüsselblumen. Sie schütteln ihre Köpfchen und in ihr Klingeln stimmt leises, helles Lachen ein. Feen? Möglich. Ich habe die Schwelle überschritten und stehe hinter der Schwarzdornhecke.

Da zeigt es sich auch schon, das kleine Volk. Tanzt lachend einen Reigen. Die Musik, so fröhlich, juckt in meinen Beinen. Schon will ich mich dem Tanz anschliessen, als ich ein «Pssst» höre. Ich drehe mich um. Auf einem grossen Stein sitzt ein kleiner Mann mit grünem Gesicht und blauem Hals, mit Anzug, Zylinder und Monokel. «Nicht mitanzzzen. Sssonssst musssst du für immer hierbleiben!», lispelt er mit einer gespaltenen Zunge. «Wäre das so schlimm?» Er lässt mir keine Zeit zum Nachdenken, beisst mich in die Nase. Au!

Ich liege neben dem Schwarzdorn in der warmen Frühlingssonne. Schlaftrunken. Eigenartig. Meine Füsse schmerzen, als hätte ich nächtelang getanzt. «Äba! Bin nur kurz weggedöst.» Trotzdem, auf dem Rückweg will ich ein paar «Sandmeijini» pflücken.

Als ich mich aufrapple, raschelt es im trockenen Laub neben mir. Die Smaragdeidechse! Ich könnte schwören, sie trug ein Monokel. «Ach, du Spinnerin!», lache ich. «Jetzt aber auf zum Briefkasten!»

Darin liegt Post von einer Woche.

Autorin: Luciana Brusa
Schichtbild: Luciana Brusa, Annette Roemer

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