„Hast du Mut?“
„Ich weiß es nicht.“
„Dann kannst du wieder gehen!“
Das war die Eingangsfrage der Schnitterin letztes Jahr im August. Ich begegnete ihr auf einer schamanischen Reise. Die Reiseabsicht lautete: Was muss jetzt unwiederbringlich abgeschnitten werden?
Ich bin geblieben. Die Schnitterin schaute mich an. Lange.
„Geh mit!“
Wir gingen unter die Erde, zu einem weit verzweigten Wurzelbereich. Eine Wurzel leuchtete in allen Farben, schillernd, klar – einfach wunderschön.
„Schneid‘ diese ab. Genau die!“
Ich zögerte. Hat sie vielleicht meine Absicht falsch verstanden?
„Los jetzt. Nimm dein Messer.“
Ich setzte mein Messer an und schnitt diese wunderbare Wurzel ab.
„Komm‘ mit nach oben.“
Dort stand ein Kessel auf einem Feuer.
„Schmeiß‘ die Wurzel hinein! Unwiederbringlich – das wolltest du doch. Geh‘ dorthin, wo es unwirtlich ist, stachelig. Das bringt dich in deine Kraft. Weg vom Leuchten. Mach‘ einfach! Sie wird sich dir zeigen.“
Ein paar Tage später habe ich die Wilde Karde gefunden. Direkt am Haus! Ihr Name hat mich sofort angesprochen und ich habe in Kräuterbüchern und im Internet ausgiebig recherchiert. Schon im Herbst hatte ich vor, eine Wurzel auszugraben.
Doch ich habe es erst jetzt gemacht, kurz vor Frühlingsbeginn. Inzwischen ist mir die Wilde Karde immer näher gekommen. Sie macht mich zunehmend neugierig und so wird es höchste Zeit, ihr zu begegnen. Ich muss tief graben, um die Wurzel aus der Erde holen zu können. Dann liegt sie in meinen Händen. Ihre kleinen spitzen Stacheln bekomme ich sofort zu spüren, da ich den unteren Teil von ihrem Pflanzenstiel behalten möchte.
Ich wasche ihr die Erde ab, lasse sie trocknen und schaue sie dann von allen Seiten an. Zusammen gehen wir in meine Werkstatt.
Hat sie eine Geschichte für mich? Welches Wesen steckt in ihr? Soll ich sie gestalten? Oder einfach nur anschauen?
Ihre Wurzel wird für mich zu einem Kopf mit wirren Haaren. Wenn ich sie am Pflanzenstiel halte, fühlt es sich an wie ein Zepter. Schon wirbeln Gestaltungsideen durch meinen Kopf. Golddraht, Farben, Perlen …
„Das Warten hat dir nichts genutzt. Dachte ich mir schon“, raunt die Schnitterin. Ich verstehe nicht recht und wende mich wieder der Wilden Karde zu.
Sie hält überhaupt nichts von irgendwelchem Schnickschnack. Namenlose Wilde sind sie allesamt. Ich soll mich davor hüten, ihr irgendwelche Zuschreibungen überzustülpen. Auch Pirschen macht überhaupt keinen Sinn. Die Wilden Karden sind überall zu Hause, breiten sich aus, wo es ihnen gefällt und finden auch auf Schutt- oder Müllhalden hochspannende Lebensräume. Sie lieben es, über andere hinauszuragen und halten Mäßigung für reichlich überbewertet.
Auch dass man jetzt so viel über sie forscht und schreibt, interessiert sie wenig. Und mit einer Geschichte oder gar einer Botschaft, egal welcher Art, brauche ich ihr gar nicht erst zu kommen! Punkt!
Jetzt stehe ich wieder am Anfang. Reset. Ein Null-Raum. Im Hirn wirbeln Ansprüche und Chaos durcheinander.
Ich schaue auf meinen Arbeitstisch. Pinsel, Stifte, Kreiden … Die Wilde Karde immer noch in der Hand, weiß ich plötzlich, was zu tun ist.
Das Einzige, was mir jetzt hilft, ist Geschwindigkeit. Damit kann ich mein Hirn fast immer überrumpeln. Ich habe es lange, vielleicht zu lange nicht mehr gemacht. Ich lege mir schwarze und braune Kreide zurecht. Und genügend Papier. Dann überlasse ich mich meinen Händen. Vorfreude und Lampenfieber erfüllen mich.
Das schnelle Zeichnen mit der Kante der Kreiden macht Spaß, die Karde taucht kurz auf, wird zur Seite gelegt. Das nächste Blatt Papier, und wieder erfasst mich die Dynamik der Linien. Ich spüre, wie es weit wird in mir. Die Stacheln der Karde tauchen immer wieder auf. Werden zum Thema. Noch sind sie mir nicht spitz genug. Immer kommt irgendein Schlenker rein. Ich wechsle zur Schere über. Das klappt super, genau so will ich sie haben. Ich schneide die Stacheln aus und klebe sie aufs Papier. Male sie an. Kreide, Gouache, Tinte … schwarz und weiß. Sonst nichts. Das entspricht meinem Tempo. Ich bade in diesem herrlichen Chaos aus Entwürfen, die überall herumliegen. Ich spiele mit ihnen. Schneide Unnötiges ab, verstärke, wo es mich hinzieht, drehe sie in unterschiedliche Perspektiven und so langsam entstehen Prioritäten. Eigentlich nur eine – der spitze Stachel.
„Auf halber Strecke verlässt dich der Mut“, raunt es hinter mir. „Wahrscheinlich kokettierst du schon mit einer Vision oder einem Entwicklungssprung in erweiterte Identitätshüllen. Wärst selbst gerne eine stattliche Karde. Erhofftes Ergebnis deines schwungvollen und höchst kreativen Prozesses. Wäre da nicht die zweite Linie, die du immer vergeigst. Schlenker sagst du dazu. Klar, man kann sich alles irgendwie zurechtschneiden.“
Jetzt reicht es mir. Mich packt der Zorn.
Ich hänge ein großes Blatt Papier an die Wand. Nehme die fette schwarze Kreide in die Hand. Erst die eine Linie, dann Zack die nächste! Dort wo sie sich treffen, ist die perfekte Spitze. Mein Stachel!
Ich spüre diese Dynamik im ganzen Körper. Die Spannung, das Aufrechte und eine komplette Übereinstimmung mit der Geste. Mit meinem Bild.
Dann tauche ich ein und werde dieser perfekte spitze Stachel. Verweile. Komme zur Ruhe. Eine große Weite entsteht in mir. Leere und Fülle zugleich. Und wieder habe ich das Gefühl, ganz am Anfang zu stehen. Staunend und völlig überrascht bemerke ich eine Veränderung. Die Verschmelzung löst sich auf – ich trete aus dem Stachel, lasse ihn zurück, wie ein Gewand.
Ich spüre die Schnitterin hinter mir. Wohlwollend und kraftvoll. „Trau‘ dich!“
Ich schaue die Wilde Karde an. Sie lacht, zwinkert mir keck zu und verschwindet. Fröhlich vor sich hin pfeifend.
Und dann wird es mir glasklar.
Das Wilde sind nicht ihre Stacheln! Das Wilde ist dahinter. Die Stacheln sind das Tor. Die Schwelle. Die Einladung weiterzugehen. In einen Raum, der alles ist und nichts. Kostbare namenlose Fülle.
Vergnügt durchschreite ich mein neues Reich. Und bin gespannt. Wie auch immer.
Das Wilde legt sich nicht fest!
Autorin: Christine Kostritza
Bilder: Christine Kostritza, Annette Roemer
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