Die Korn-Alte

Die Korn-Alte weiß um die Furcht vor dem ersten Schnitt

Sie weiß um die alles entscheidende Balance der Elemente und sie kennt die verheerenden Folgen einer leeren Kornkammer.

Der Ruf der Wilden Seele hallt in die Leere hinein, mahnt zum Aufbruch. Wir spüren schon lange, dass die Zeit reif ist und in unserem Zögern verbinden wir uns mit unseren Fußsohlen. Wir vertrauen ihrem sensiblen, erdbraunen und uralten Wissen. Und so stehen wir jetzt mit unseren bloßen Füßen auf der warmen Erde und blicken nach Süden. Die Korn-Alte hat uns aufmerksam, klar, erfahren, liebevoll und auch unbeugsam bis zum Zenit des Sommers begleitet. Jetzt geht es um den Schnitt, die Essenz und um die innere und äußere Kraft, die Position zu verändern – nicht mehr ganz im Sommer zu sein und noch nicht im Herbst. Es ist ein Platz zwischen den Feuern, ein unruhiges Pendeln zwischen Verharren und Aufbruch. Die Kraft unseres Kreises ist es, die uns letztlich hilft und unterstützt, unsere Reise fortzusetzen. Und genau hier beginnt die Ernte, hier stellen wir erstaunt fest, dass die Samen aufgegangen sind.

Liebevoll streicht die Korn-Alte über die reifen Ähren, ein sanfter Wind verwandelt das Kornfeld in ein wogendes Meer und der Tanz der feinen Grannen-Fäden webt ein goldenes Vlies. Sie, die Uralte und Junge zugleich, verbindet sich mit ihrer Sommerweisheit und mit ihrer Kriegerinnen-Seele im Norden – heute muss die Essenz gefunden werden. Morgen wird der erste Schnitt gemacht.

Was braucht es für die Reise gen Westen, welcher Wanderstab lässt die Herztrommel erklingen, welches Sommerkraut riecht nach Heimat und was hindert, was muss zurück gelassen werden und was wird bis zum nächsten Sommer in ein warmes Wurzelnest gebettet?

Die Korn-Alte beginnt zu rasseln, die Töne flimmern wie die Luft an einem heißen Sommertag, sie lüften den Schleier zwischen hier und dort. Und dann erhebt sich eine wunderschöne Ähre, sie steht wie ein goldener Stab mitten im Kornfeld – es ist die Alte selbst. In dieser Verschmelzung ertönt das klare, furchtlose, berührende, wilde und seelentiefe Lied der Schnitterinnen.

Tief berührt erleben wir diese Verwandlung, das Lied öffnet unsere Sinne, die Furcht wird kleiner und die Hingabe zu uns selbst wird größer. Wie von selbst drehen sich unsere Wurzelsohlen ein bisschen weiter und wir stehen aufrecht in diesem spannenden rot-schwarzen Zwischenraum. Die Unersättlichkeit des Sommers weicht zurück, der Abschied ist gelungen. Jetzt singt sich die eigene Fülle in unsere Wilden Seelen und öffnet die Tore zu unseren Kornkammern mit einem unbändigen Juchzer.

Unsere Tränen und unser Lachen wagen das Bündnis und danken diesem wundersamen Sommer. Das Unverwundete ist seine und unsere Essenz, und damit werden wir unser erstes Brot würzen.

Die Rassel wird leiser, das Kornfeld schließt seine Mitte und wir haben die Schwelle überschritten.

Die Korn-Alte tritt in unseren Kreis, bewegt und mit einer golden-warmen Freude in ihren Augen. Und dann ist es soweit – jede von uns erhält ihr eigenes Schnitterinnen-Messer.

Eine scharf geschliffene, silbrig glänzende Mondsichel!

Text: Christine Kostritza
Schichtbild: Annette Roemer

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. PETRA

    Liebe Christine, ich kann deinen Text immer und immer wieder lesen, er entwischt teilweise meinem Verstand und berührt mich in meiner Seele, er verbindet mich mit tiefer magischer Wahrheit und lässt mich nachdenklich werden wie und ob ich diese Schwelle diesen Sommer gegangen bin und inwieweit es mir gelungen ist, die Essenz mit in den Herbst zu nehmen. Eine wunderbar wundersame Geschichte, herzlichen Dank!