Der verborgene Frieden

Mit meinen rosa Plastikhausschuhen, meiner schwarz-weiß gestreiften Schlafhose und einem alten Schlabbershirt stehe ich im dunklen Esszimmer. Etwas hat mich geweckt. Wie so oft, wenn eine Reise ansteht, eine Geschichte, ein Seminar …

Der Wintermorgen hat noch Zeit. Hinter mir steht das Regal mit all meinen Sachen. An der Wand Fotos, Beutelchen, Federn, Figurinen, Knöchelchen und Hölzchen und darüber ganz banal ein Wochenplaner. Auf dem Brett selbst eine Tonschale. Sie repräsentiert das Medizinrad. Ein Versammlungsort für unterschiedlichste Helferwesen. Zurzeit möchten sie etwas Glitzer in ihrer Mitte.

Dies alles spüre ich in meinem Rücken. Angenehm, ruhig und seelenwarm. Dieser dunkle Wintermorgen verlangt nichts von mir. Die Schlafhose ist wie eine Tarnkappe und lässt mich im Dazwischen verweilen.

Doch was hat mich geweckt? Geht es um den Text, den ich für das Spinnerinnen-Magazin schreiben möchte? Seit 4 Jahren bin ich jetzt bei den Spinnerinnen und immer ist es ein Forschen, ein Hinspüren, ein Fokussieren, was letztlich in Worte gefasst werden möchte.

Und jetzt weiß ich was mich geweckt hat. Es ist die allererste Geschichte, die ich geschrieben habe. Ich habe sie seit Jahren nicht gelesen.

Ich hole mein Tablet und beginne sie zu suchen.
Da ist sie: Spinnen-Großmütter

Ich werde sofort von der Alten auf dem Foto in den Bann gezogen. Ihre Augen sind es, dieser unausweichliche Blick. Nur langsam kann ich mich davon lösen.

Dann beginne ich zu lesen. Ich bin erstaunt – die Geschichte hat für mich nichts an Aktualität verloren. Und es fühlt sich an, als hätte sie eine andere geschrieben.

Mit diesen Eindrücken kuschle mich nochmals ins Bett. Wider Erwarten schlafe ich ein.

Beim Aufwachen ist das Gesicht der Alten sofort wieder präsent. Sie hat mir etwas zu sagen und sie spannt einen Bogen zu der Geschichte, die ich noch nicht geschrieben habe.
Ich werde eine schamanische Reise zu ihr machen. Ich möchte ihr begegnen, sie fragen, ihr in die Augen schauen. Furcht und Neugier begleiten mein Vorhaben.

Salbeigeruch macht meinen Kopf frei. Die Trommel öffnet den Raum.

Die Reise kann beginnen.

Ein Rentier bringt mich weit nach oben. Ich vermute eine Schneelandschaft, doch es geht noch weiter hinauf. Die Reise endet an einem riesigen Netz. Seine Grenzen, falls es überhaupt welche gibt, verlieren sich in der Weite.

Die Alte sitzt in der Mitte. Ich balanciere auf dem Fadengespinst langsam zu ihr. Unser Spinnerinnen-Netz sehe ich als Teil von dem großen Gewebe. Es schimmert in warmem Orange.

Unsere Augen begegnen sich. Ihr Blick macht mich weit und nimmt mich mit in ungeahnte Tiefen. Still sitzen wir nebeneinander. Diesmal sitze ich mit am Feuer. Mittendrin im Kreis der anderen Spinnen-Großmütter. Sie haben mich eingeladen!

Auch wenn ich sie nicht sehen kann – ich spüre sie.

Die Dunkelheit bleibt. Das Feuer bleibt.

Mal höre ich eine Rassel, dann wieder weit entfernte Töne – nichts davon wiederholt sich. Keine Form mag sich schließen. Kein Faden webt ein Muster zu Ende.

Ein Bündel wird herumgereicht, jede von den Spinnen-Großmüttern bläst, tönt oder wispert etwas hinein. Was geht hier vor?

„Wir träumen den verborgenen Frieden“, murmelt die Alte.

Genügt das? – schießt es mir durch den Kopf. Einfach nur träumen?

Das Bündel kommt zu mir.

„Alles gilt. Der Traum ist eine schwierige Medizin“, murmelt sie weiter.

Tief berührt sitze ich neben ihr. Sie hat mich gerufen und sie zeigt mir den Schlüssel zu dieser Medizin:

Jede Erinnerung ist kostbar!

Ich nehme das Bündel in meine Hände und töne meinen Zweifel!

Das faltige Gesicht der Alten lächelt. Wir schauen uns an. Sie weiß es sowieso. Und ich weiß es auch. Doch manchmal erscheint es mir zu gewagt:

Das große Netz der Erinnerungen ist wie Brot. Jede und jeder kann es einfach haben. Weil es da ist. Weil wir träumen. Weil wir zweifeln. Weil wir nicht alleine sind. Weil es ist, was es ist.

Das Bündel kommt noch einmal zu mir.

Das Wagnis ist zutiefst mit allen und allem verbunden.

Ich träume mit euch den verborgenen Frieden.

Autorin: Christine Kostritza
Schichtbild: Annette Roemer, Foto: boston-public-library | Unsplash

Zur allerersten Geschichte im Spinnerinnen-Magazin … KLICK

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Susanna

    Das große Netz der Erinnerungen ist wie Brot – das hat mich berührt, sehr … ja, so ist es – Danke dir Christine …