Der Teufelsritt

Cernunnos, Pan und der teuflisch geile Ziegenbock treiben mich seit meiner Kindheit um. Jetzt habe ich beschlossen, dass ich den Spieß umdrehe: Ab sofort treibe ich sie um!

Am Rodelhügel hinter unserer Siedlung ist alles schneeweiß. Da erscheint ein finsterer Hirschkopf und springt hektisch vor mir auf und ab. Panik! Das ist eine meiner ersten Erinnerungen aus einer frühkindlichen Welt zwischen Traum und Wirklichkeit. Dieser Hirschkopf und die Panik blieben in meinen Gefühlen lange Zeit fest aneinander kleben. Wenn ich als Kind vom Teufel hörte, dann hatte der ein Geweih wie dieser Hirsch. Wenn meine Schwester mich in der Dunkelheit erschreckte, sah ich in meiner Panik wieder den bedrohlichen Hirschkopf auf- und abwippen.

Gegen Ende meiner Kindheit war ich vernarrt in Robin Hood und liebte es, die Blockbuster-Serie über ihn und seine Bande im Sherwood Forest im Fernsehen zu schauen. Einmal tauchte dort ein seltsames, baumhohes Hirschwesen auf, das meinem Helden mit magischen Kräften half, gute Ratschläge gab und das Robin Hood als „Gott des Waldes“ ansprach. Ich fand diesen Gott schaurig und verkroch mich jedesmal unter meiner Decke, wenn er auftauchte. Der teuflische Panikmacher aus meiner frühesten Kindheit in der Rolle des Mentors … diese Gegensätze waren zu krass, die brachte ich einfach nicht zusammen.

Jahre später – ich war mittlerweile erwachsen und liebte es, in den alten Mythologien herumzugraben – begegnete ich dem Panikmacher erneut: Ich sah ihn auf dem Kessel von Gundestrup. Archäologen nennen den Mann mit Hirschgeweih, der von etlichen Tieren begleitet wird und eine Schlange in der Hand hält, Cernunnos. Cernunnos, der „Gehörnte“ war der keltische Gott der Natur, der Tiere und der Fruchtbarkeit. Als Begleiter der großen Erdgöttin war er – oh Wunder – sogar für die Liebe zuständig. Und da die Natur Mitteleuropas zur Zeit der Kelten hauptsächlich aus Wald bestand, kann man ihn getrost als den Gott des Waldes bezeichnen. Diese Erkenntnis verwandelte das meiste meiner Panik in ehrfürchtige Neugier.

In der Schule hatte ich von einem anderen herzerfrischenden Hornträger gelesen, der dem verknöcherten alten Faust das spritzige Leben zeigte und den man vielleicht für einen Schurken halten mochte, aber der halt dann doch – obwohl er stets das Böse will – „Gutes schafft“. Bis auf die Sache mit Gretchen fand ich Mephistopheles eigentlich ganz sympathisch. Ist der Teufel am Ende gar nicht so teuflisch? Wurde er erst von der christlichen Kirche zum Teufel gemacht? War der Sturz des Luzifer ursprünglich der Sturz des Cernunnos vom göttlichen Thron, auf den ihn die heidnische Bevölkerung hartnäckig immer wieder emporhob?

Als ich – mit gebührendem zeitlichen Sicherheitsabstand – meiner kindlichen Panik vor hüpfenden Hirschköpfen auf die Spur zu kommen versuche, lande ich bei einem weiteren Hornträger: Pan. Der Ziegengott. Auch Waldgott, sehr lüstern mit betörender Panflöte. Wird er in seiner Mittagsruhe gestört, jagt er den Wesen des Waldes einen panischen Schrecken ein, sodass sie in alle Himmelsrichtungen davonstieben. War er es, der mich als Kind in Panik versetzte? Hatte ich ihn zu oft in seiner Mittagsruhe gestört?

Oder ist es vielmehr das Triebhafte, das Männliche, was mir am Pan so Angst gemacht hat? Das, wovor sich zig Frauen aus meiner Ahnenlinie einst – wohl auch zurecht – gefürchtet hatten und was mir epigenetisch noch immer in den Knochen steckt. Das Nicht-Nein-Sagen-Dürfen, wenn ein Mann Sex von einer Frau will! „Seit dem Paläolithikum gelten hörnertragende Tiere als Symbole von Fruchtbarkeit, Geilheit und testosterongesteuerter Männlichkeit“, schreibt der Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl in seinem neuen Buch („Die Magie der Sonnwenden“, übrigens sehr lesenswert!). Was wohl die große Erdgöttin mit Cernunnos gemacht hat, wenn er ihr an die Wäsche wollte, sie aber gerade keine Lust auf ihn hatte? Darüber finde ich leider nichts bei Storl. Dafür schreibt er über die Schamanen und – vor allem – Schamaninnen, denen die Geweihträger oft als Reittiere auf ihren Reisen in die Andere Welt dienten. Das ist es: Ich werde lernen, den Pan zu reiten! Mal ihn zügeln und mal auf ihm in wildem Ritt durchs Dickicht jagen. Er ist mein Reittier. Nicht ich das seine!

 

Autorin: Dagmar Steigenberger
Fotos: Dagmar Steigenberger, John auf Pixabay, Annette Roemer, Cernunnos vom wunderbaren  Künstler Kykvendi

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