Der Stab der Zauberin

Wer durch den Wald streift, hält früher oder später einen Stock in der Hand, der irgendwie besonders ist und mit muss. Daheim wird er dann entrindet, geschliffen, geölt, poliert, geschmückt und beginnt schließlich ein neues Leben – als Wanderstock, Trommelschlegel, Rede- oder Zauberstab. Doch woher kommt es, dass es uns gerade Stöcke so angetan haben?

Der Druide Gandalf hat einen mit Kristall-Knauf, den vom Götterboten Hermes zieren Sonne und Sichelmond, um Äskulaps Stab windet sich eine Schlange und Harry Potter besitzt nurmehr die Mini-Version in Bleistift-Dicke. Aber nicht nur in der Welt der Mythen und Märchen spielt der Stab eine zentrale Rolle. In der christianisierten Welt galt der goldene Stab als Machtinsignie der Bischöfe und Könige, während in der heidnischen Welt die Hexen auf Besen ritten – auch eine Art Stab. Hirten tragen noch heute ihren Hirtenstab bei sich, der sie nicht nur beim Wandern stützt, sondern ihnen auch mehr Gehör beim Vieh verschafft. In indigenen Kulturen gibt es die Tradition des Redestabs.

In Skandinavien, wo sich die Jäger und Sammler-Kultur europaweit am längsten hielt, fanden die Archäologen seltsame Eisenstangen in den Gräbern wohlhabender Frauen: durchschnittlich einen Meter lang und an einem Ende mit einem merkwürdigen käfigartigen Korb ausgestattet. Manche der Stäbe hatten keinerlei Schmuck, andere waren kunstvoll mit goldglänzender Bronze beschlagen und mit Anhängern und Ringen verziert. Zuerst hielt man sie für Spieße zum Fleischbraten. Reichlich viel hinderlicher Tand für ein profanes Küchenutensil! Dann erinnerten sich wohl einige an die Sagas über die skandinavischen Magierinnen. Völur oder Seiðstaf wurden sie genannt, übersetzt: Stabträgerinnen. Die Völur (Einzahl: Völva) sind Seherinnen, Heilerinnen, Kräuterweiber, Hebammen, Schamaninnen. In den dunkleren Erzählungen benutzen sie ihre Hexenkunst auch als Waffe. Und fast immer sind es Frauen; ältere, heilkundige Frauen, die das gebärfähige Alter überschritten haben. Der Seiðmann hingegen genoss ein relativ geringes Ansehen in der Bevölkerung. Zauberte ein Mann im Kampf, galt das in der skandinavischen Mythen-Welt als feige und unmännlich.

Was ist es, was gerade den Stab zu einem solchen machtvollen Zauber-Utensil macht? Ist es die symbolhafte Verbindung, die er je nach Ausrichtung schaffen oder trennen kann: zwischen Himmel und Erde, zwischen Geist und Materie, zwischen Lebenden und Toten? Aus Holz ist der Zauberstock ein Teil des Waldes und schafft damit die Verbindung zum Weltenbaum. Aus Metall gleicht er einem Spinnrocken, mit dessen Hilfe wirre Fasern zu einem leitenden Faden gesponnen werden. Die Völur spannen wirre Informationen zu gehaltvollen magischen Geschichten, mit denen sie ihre Zuhörerschaft fesselten und ihnen zugleich eine Art roten Faden in die Hand gaben.

Den alten, weisen Frauen diente ein solcher Eisenstab jedoch sicher auch bei ganz profanen Dingen: als Gehstock oder auch als Verteidigungsinstrument, während sie allein auf Wanderschaft waren. Nur zum Würschtlbraten haben sie ihn wahrscheinlich dann doch nicht benutzt.

Autorin und Foto: Dagmar Steigenberger

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Christine

    Liebe Dagmar, genau so ist es mit den Stäben und dieser Sammelliebe, die einfach „sein muß“. Wie schön, daß du unser „Stab-Gen“ in die Herkunft webst und damit einen Verbindung herstellst zu den AhnInnen der Wurzeln, Stäbe, Stöcke…
    Nächstes Mal trabe ich dann als Seherin durch den Wald oder einfach als magische Würstlbraterin😋 Liebe Grüße 💛