Das goldene Ei

Die grosse Mutterschaft

Eine Schöpfungsgeschichte (und ihre Folgen)

Vor unvordenklichen Zeiten lebte im All eine grosse nackte Frau. Ich Körper war üppig und stark, und sie bewegte sich frei und unbefangen. Oft ruhte sie auf einem Sternenhaufen und träumte vor sich hin.

Sie dachte sich die fantastischsten Wesen und Geschichten aus, denn sie war ganz allein im Universum mit all seinen Sternen. Diese waren schön und glitzerten und summten, und manchmal spielte sie mit ihnen und steckte sie sich ins Haar oder liess sie über ihren schönen Körper rieseln. Doch viel mehr geschah nicht in all den Äonen, in denen sie atmete, denn die Zeit war auch noch nicht erfunden.

Irgendwann hatte sie Lust, etwas Bewegung in das Ganze zu bringen. Ja, vielleicht langweilte sie sich auch ein bisschen, und sie wollte ihre flüchtigen Träume ein wenig an der Flucht hindern.

Sie ging tief in ihren Bauch hinein, in die Mitte ihres Körpers, und dort schuf sie ein goldenes Ei. Das goldene Ei lag in einem schönen roten Samtkissen, wie in einem Nest, tief in ihrem Bauch versteckt. Und dorthin schickte sie nun all ihre Träume, die sie im Dämmer in der endlosen Tiefe des Alls erträumte. Schliesslich war das Ei zum Bersten voll mit irrwitzigen Gestalten und abstrusen Gedanken und verwegenen Spielen, und alle waren sie eng zusammengerollt wie winzige junge Farne, bereit, sich hinauszustürzen ins Leben. Da wusste die grosse Frau, dass es nun an der Zeit war. Sie verfiel in Ekstase und presse das Ei aus sich heraus.

Es war wunderschön glatt und golden, und es lag warm und schwer in ihrer Hand.

Die grosse Frau war ganz hingerissen. Voller Freude spielte mit dem Ei, das all ihre Träume enthielt. Sie liebte das goldene Ei über alles.

Eines Tages, wie sie wieder so dalag, hingebreitet in ihrer ganzen Vollkommenheit, liess sie es zwischen ihren Brüsten hindurch auf den Bauch rollen und wollte sehen, ob sie es mit dem Bauchnabel auffangen konnte. Doch das Ei eierte davon und ging glatt zwischen ihren Beinen hindurch, stolperte ins Leere, fiel auf die spitzen Zacken eines kleinen Sterns und –

knacks! – hatte es einen Sprung. Von innen drückten und drängelten die Träume, so dass der Sprung immer grösser wurde und bald um das ganze Ei lief. Da gab es nochmals einen kräftigen Ruck im Inneren, das goldene Ei zersprang und sein ganzer Inhalt platzte förmlich heraus.

Die grosse Frau schrie entsetzt auf, schlug die Hände vors Gesicht und weinte um ihre zerbrochenen Träume. Doch diese begannen sich zu entrollen, aufzufalten, auszuschlagen und zu wachsen. Und als nächstes zu quäken, zu piepsen, zu flattern und zu tapsen… Die grosse Frau hob erstaunt den Blick, denn so etwas war noch nie vernommen worden in den Weiten des Alls (ausser natürlich in ihren Träumen). Was sie nun sah, entzückte sie über alle Massen. Die Wesen entwickelten sich immer weiter, purzelten übereinander und begannen, die verrücktesten Dinge zu tun. Dinge, die sich die grosse Frau in den langen Mussestunden zwischen Schlafen und Wachen ausgedacht hatte. Sie frassen einander auf, das war lustig, und sie spielten viel und waren plötzlich traurig oder fröhlich oder machten sich auf einmal Gedanken darüber, wo eigentlich ihr Ei abgeblieben war.

Das Erstaunlichste aber war, dass einige von ihnen auf einmal selber Eier im Bauch hatten, wenn auch keine goldenen, und wenn diese aus ihrem Bauch hervorkamen und aufbrachen, war da wieder dasselbe Wesen drin, nur viel kleiner. Anscheinend träumten sie immer wieder nur sich selbst. Und dann gab es auf einmal welche, die kürzten das Verfahren ab und kamen ganz ohne Ei gleich direkt aus dem Bauch heraus.

Die grosse Frau kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Jetzt war es keineswegs mehr langweilig. Im Gegenteil. Die Wesen waren auch noch da, wenn die grosse Frau schlafen oder weiterträumen oder wieder mal in Ruhe mit den Sternen spielen wollte. Und es wurden immer mehr. Und sie wurden immer lauter. Schliesslich wurde es ihr zu bunt. Sie packte den ganzen wilden Haufen und brachte ihn auf einen schönen kleinen blauen Planeten. «So, hier könnt ihr euch vergnügen, bis ihr umfallt», sagte sie, und ging zurück zu ihrem Lieblings- Sternenhaufen. «Die Träume, die ich rief…!», seufzte sie noch mit einem Augenrollen und dann genoss sie endlich wieder die erhabene Stille des Alls, nur umrahmt vom dezenten Summen der Sterne.

Doch die Ruhe war nicht von langer Dauer. Die Traumwesen, ganz besonders die, die auf zwei Beinen gingen, riefen bald nach der grossen Frau. Sobald sie etwas ausgefressen hatten oder irgendetwas schief ging oder sie nicht mehr weiterwussten, schrien sie sofort: «Grosse Frau! Grosse Frau!!» Zuerst hielt sich die grosse Frau die Ohren zu, aber dann musste sie wohl oder übel nachschauen, was los war. Sie stellte fest, dass alle Zweibeiner von grossen roten Pusteln übersäht waren.

«Es geht uns schlecht! Wir sterben! Was sollen wir tun?», fragten sie. «Woher soll ich das Wissen?», antwortete die grosse Frau. «Du hast uns geträumt und aus Spass hast du uns mit roten Punkten angemalt. Träum das wieder weg!», sagten die Zweibeiner.

Die grosse Frau grummelte ein bisschen, aber sie sah schliesslich ein, dass wenn sie diese Wesen und Geschichten alle in die Welt geholt hatte, sie wohl auch ein wenig für Ordnung sorgen musste. Also ging sie weg und schlummerte ein bisschen und nach einer Weile kam sie zurück und sagte: «Ich habe geträumt, dass wenn ihr von dieser Pflanze mit den weissen Blüten esst, die roten Pusteln wieder verschwinden.»
Die Zweibeiner assen von der Pflanze, und bald ging es ihnen besser. Da waren sie froh und dankbar, und sie machten aus den weissen Blumen ein schönes Kränzchen und riefen wieder nach der grossen Frau. «Was ist denn jetzt schon wieder?», raunzte sie. Da streckten ihr die Wesen mit leuchtenden Augen den Kranz mit den weissen Blüten entgegen. «Für mich?», fragte sie vorsichtig. Sie hatte noch nie ein Geschenk bekommen – woher auch – und war auf einmal furchtbar gerührt, und auch das war ein neues Gefühl.

Nun begann zwischen der grossen Frau und ihren Wesen ein reger Austausch, und es war wirklich niemandem mehr langweilig. Die grosse Frau lehrte die Zweibeiner das Träumen, so dass sie nun ihrerseits Eier legten mit den wunderlichsten Dingen darin. Es war eine herrliche Zeit, und es wurde viel gefeiert und gelacht. Aber irgendwann waren die Zweibeiner so damit beschäftigt, immer noch verrücktere Dinge zu erträumen, dass sie die grosse Frau ganz vergassen und diese manchmal, wenn sie zu Besuch kam, allein und unbeachtet in einer Ecke stand. Ihre Träume schien keiner mehr zu brauchen und sie bekam auch kaum noch Geschenke. Und all die anderen Wesen, die keine Zweibeiner waren, waren bald nur noch in die Traumverwirklichungslegebatterien der Zweibeiner eingespannt. Und das eine oder andere Ei, das da platzte, roch sogar ziemlich faul…

Da ging die grosse Frau weg und war ein wenig traurig. Ihre Träume waren nicht mehr ihre Träume, sie hatten sich verselbständigt und wollten nichts mehr mit ihr zu tun haben. Die grosse Frau lag wieder auf ihrem Sternenhaufen, winkte den Sternschnuppen zu, die vorübersausten und sann nach. Ein bisschen einsam fühlte sie sich schon, jetzt, da sie wusste, wie schön es war, seine Träume zu verwirklichen. War es vielleicht bald Zeit für ein neues Ei? Ein Silbernes diesmal? Oder ein grünes? Ein silbernes Ei auf einem grünen Samtkissen wäre doch schön.

Aber diesmal würde sie ein Spiegelei daraus braten.

Text: Elisabeth Rolli
Fotos: Unsplash
Und die galaktisch schönen Kollagen sind von Vera May Rolli

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  • Beitrags-Kategorie:Am Feuer / Magazin
  • Lesedauer:8 min Lesezeit
  • Beitrags-Kommentare:7 Kommentare

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Dieser Beitrag hat 7 Kommentare

  1. Dagmar

    Wieder mal eine herrliche Geschichte, voller Tiefsinn und Humor: Ich liebe sie!

  2. Christine

    Liebe Elisabeth,
    Deine “ Traumverwirklichungslegebatterie“ ist zu meinem Lieblingswort geworden. Wie klug sich ab und an auf seinen Sternenhaufen zurückzuziehen um Spiegeleier zu mampfen.
    Eure Collagen sind Geschichten für sich und haben diesen herrlichen Spannungsbogen von goldener Verheißung und der Schönheit des Einfachen.
    So schön – danke euch BEIDEN .

    1. Elisabeth

      Ja, am Ende gehts irgendwie immer ums mampfen;-))

  3. Elisabeth W.

    hey elisabeth,
    eine sehr schöne inspirierende geschichte. wie du die verschachtelung und das verselbstständigen von unserer welt wiederspiegelst und wie poetische besinnung mitschwingt, gefällt mir.
    und ja: die collagen von vera sind wirklich galaktisch schön !
    kerzengruss von visavis *

  4. Madleina

    Eine leichtfüssige, frische Schöpfungsgeschichte, wunderbar erzählt und ins Bild gebracht, sinnlich, witzig und voller goldener Fantasie. Ein Zusammenspiel weiblicher Gedankenbewegung und Lebensfreude… zum nacherzählen schön. Danke Elisabeth und Vera May Rolli.

    1. Elisabeth

      Danke Ihr lieben Frauen für Eure schönen Kommentare! Es war lustig die Geschichte zu schreiben, und ich freue mich sehr zu erfahren, was Ihr alles darin sehr und das sie Euch gefällt. Das ermuntert zum weiterschreiben…

  5. Liebe Elisabeth!
    Dein Schöpfungsmythos ist umwerfend!
    Vielen Dank dafür!
    Liebgruss und is gly wieder mal!
    ReGUla