Bärenmantel

Auf der Suche nach dem verlorenen Ich – oder – wo bin ich

Eigentlich wollte ich über die Stechpalmen-Essenz schreiben (Stechpalme für alleeeee!!!), aber dann bin ich bei Mode hängengeblieben, weil ich gestern spontan angespuckt wurde, weil in einem Kontext mein Impfstatus fiel.

Tief atmen, ignorieren – wir laufen alle am Limit – also arbeiten, helfen wo‘s geht (aber das nächste Mal hau ich und zwar feste, versprochen… Ich hüll mich da nicht in Esoglitzer, alles hat Grenzen…).

Ergo habe ich entschieden, ab heute unsichtbar zu werden.

Cocooning nannte es eine Freundin – mein Prozess seit Monaten.

Meine Kleider werden weiter und wie mit vierzehn mag ich meine neue Oversizepullis gerne in schwarz, am besten kombiniert mit meinen Docs, schwarz, mit engen Jeans – schwarz.

Dass, seit ich vierzehn gewesen bin, vielleicht so ein, zwei Jahre vergangen sind (naaaa gut 26), lass ich jetzt mal als unnötiges Detail so stehen. Und wie mit 14 guck ich mir die Welt und viele Erwachsene an und denk „weisch waaaas?! Ihr spinnt doch?!“

(und da fügt ein Teil von mir an, dass da weder die Haltung zu den Massnahmen noch der Impfstatus relevant sind, viele spinnen äfach durchs Band. Und jetzt schlagt mich, ist mir egal – ich bin geistig 14 und hab einen tätowierten Mittelfinger. Das Tattoo zeig ich gerne…)

Ich habe keine Lust mehr da mitzumachen, hab keine Lust erwachsen zu sein in einer Welt, in der Kinder den Erwachsenen die größten Vorbilder sein sollten – und die Erwachsenen das einfach nicht schnallen. Was jetzt ist, ist jetzt. „Jetzt“ geht immer vorbei, was kommt danach?

Kinder sind ohne Vorurteile, sie verzeihen schnell, sie können sich prügeln und dann drei Minuten später wieder beste Freunde sein. Kinder sind einfach grossartig.

Ich bin leider kein Kind mehr also versuch ich mich als Teenager anno 1995 (und an dieser Stelle meinen allergrössten Respekt an alle Kinder und Jugendlichen der momentanen Zeit. Ihr seid fantastisch!)

Ich schweife ab; jedenfalls habe ich mir heute einen „Unsichtbarmach- Mantel“ gekauft, ganz meinem momentanen Stil entsprechend; viiiiel zu weit, viel zu gross, zum Verkriechen, sich verstecken.

Aus schwarzem flauschigen Kunstfell.

Ich bin unsichtbar geworden und an meine Stelle ist ein grosser, mümmeliger Schwarzbär getreten, der jetzt zufrieden durch die Strassen trottet. Durch seine Farbe, sein Fell und seine Grösse geschützt.

Komm nur, dann lass ich dich meine Pranke spüren… Vielleicht nehme ich dich auch nur einfach in meine Pranken und umarme dich fest.

Eine starke Bärenumarmung können wir wohl zunehmend alle gebrauchen.

Ich habe versucht mich nicht zu verlieren in dieser Zeit.

Ich habe mich an einen speziellen Ort gepackt – einen speziellen Ort, damit ich nicht vergesse, wo ich bin. Ein Ort, der so speziell ist, dass ich jedes Mal vergesse, wo er ist.

Mein „Ich“ weilt also vielleicht bei meiner Brille, wichtigen Dokumenten und Einzahlungsscheinen kurzum bei all den Dingen, die ich auf gar keinen Fall verlieren oder vergessen wollte.

Es wurde in den letzten Monaten zunehmend schwierig, mein „Ich“ nicht zu verlieren. Immer wieder musste ich es überall suchen, unter dem Bett, im Schirmständer, im Kühlschrank, unter der Fussmatte… – Ich habe viel gefunden (meine Kopfhörer juhui!), bloss mein „Mich“ nicht.

Ich sah mein „Ich“ am Grunde einer Keksdose schimmern und musste die Dose schnell leerfuttern, um es zu erhaschen, aber da war nix. Ich sah mein „Ich“ am Grunde einer Weinflasche leuchten und hab sie geext, aber auch da war es nicht, nicht mal doppelt – obschon der Rest danach doppelt war.

Ich habe mich verzweifelt zu Selbstfindungsworkshops an- und abgemeldet, weil, die wissen ja, wo ich bin oder sein könnte. Ich habe meinen Schamanen der Wahl belästigt „Du sag mal?“, ich habe meine Geister gestresst, bis sie komplett genervt von mir waren.

Und plötzlich wurde mir bewusst, dass ich kein fancy roter Regenschirm bin, den ich irgendwo verlegt, verloren oder vergessen habe. Ich bin immer bei mir, ich KANN mich gar nicht verlieren. Mein Ich stand dauernd hinter mir, hat interessiert zugeguckt, als ich unter dem Bett geräumt, den Kühlschrank, die Keksdose, die Weinflasche geleert habe – und irgendwann ist es mir wahrscheinlich einfach gelangweilt hinterhergeschlendert und hat sich seufzend die Fingernägel geputzt, geschliffen und rot lackiert. Mit Müsterchen in Gold, weil es langsam langweilig wurde.

Ich bin immer da, auch wenn ich es gerade nicht spüren kann, auch wenn ich auf der Flucht bin, ja sogar in meinem dicken flauschigen Bärenmantel kuschelt es sich an mich. So lässts sich‘s leben, warm, flauschig, kuschelig.

Wir harren aus, machen uns unsichtbar und wenn es vorbei ist, dann zeigen wir uns wieder, dann sprengen wir den Kokon und treten wieder ans Licht… in Farbe.

Aber bis dahin: Wir haben getan was wir konnten, wir sind niemandem etwas schuldig.

Wir dürfen unsichtbar sein. Wir dürfen sein und tun, was wir wollen.

Bloss: anspucken geht aso nicht…

(Und gerade hat mir eine Bekannte geschrieben, sie habe sich Pullis wie mit 14 gekauft.  Ja! Lasst uns cocoonen und dann Kokons sprengen.)

Autorin: Lina Engler
Foto: J.E, Annette Roemer und Samuel Nyiro auf Pixabay

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Dieser Beitrag hat 5 Kommentare

  1. Dagmar

    Herrlich ernst und komisch, tiefgründig und heiter zugleich! Wir sind ungefähr die gleiche Generation, und da fällt mir eine meiner Lieblingspostkarten ein, die ich vor etwa fünf Jahren an einem Kartenständer gefunden habe: „Ich bin nicht da! Bin mich suchen gegangen. Wenn ich wieder da bin, bevor ich zurückkomme, sagt mir: ich soll auf mich warten!“

    1. Lina

      Musste grad lachen, versteh Dich, die Karte hängt auch bei mir im Flur☺️💚find sie grandios
      Danke Dir🌸

  2. Su Albrecht

    Boahhh, genial der Text. Ich spüre so viel. Und ich fühle mich verstanden. Ich möchte so einen schwarzen Mantel mit rießen Kaputze. Verstecken.
    Anspucken geht gar nicht.
    Da muss Bärin mal laut brüllen.
    Danke fuer deine Worte

    Aho!
    Su

  3. Christine Kostritza

    Vor ein paar Jahren bekam ich ein wunderbares Bilderbuch geschenkt. „DER BÄR, DER NICHT DA WAR“:
    Als etwas Zeit vergangen war, fragte der Bär: “ Haben wir uns verirrt?“ „Ja, das haben wir“, nickte die Schildkröte, “ das gehört zu geradeaus.“ “ Verstehe“, sagte der Bär.
    Und irgendwann später fragte der Bär:“ Haben wir uns verirrt?“. “ Absolut“, erwiderte die Schildkröte.
    „Wie schön“, sagte der Bär.
    Ich glaube der Bär und du, ihr würdet euch sehr gut verstehen! Dir eine wohligwarme Bärenzeit. 🐻🐻🐻

  4. Carolin

    Danke für diesen großartig treffenden Text, hat mich sehr zum Lachen gebracht.

    Das mit der Stechpalme würde mich aber auch interessieren! 🤗