Im Norden werden wir eine Älteste…
Seit einiger Zeit begleitet mich dieser Satz, er schlich sich in die Lücke zwischen Traum und Erwachen. Eine Älteste… Noch schützt mich das „wir”.
An einem klaren, kalten und sonnigen Wintertag entschließe ich mich, genau zu diesem Satz einen Schwellengang zu machen. Ich habe ein paar Kastanien in der Tasche für die Rehe und bleibe am Waldrand stehen. Die ausladenden Wurzeln einer alten Fichte werden meine Schwelle.
Ich spreche den Satz – im Norden werden wir eine Älteste – und gehe über die Wurzel-Schwelle.
Ein Buntspecht klopft knapp über mir, ein vertrockneter Schachtelhalm formt ein Zelt und ich versuche bereits, mir daraus eine Geschichte zu stricken.
Es ist wirklich ein wunderbarer Tag, die Berge in ihrem majestätischen Weiß und die schon wärmende Sonne im Gesicht. Ein Vorratshüttchen aus Holz lockt mich zum Innehalten. Ein etwas wackeliger Holzklotz wird mein Sitzplatz. Mir gegenüber steht der Stamm einer abgesägten Fichte, der die Form eines kleinen Sessels hat.
Ich lehne mich an die warme Holzwand und schließe die Augen. Der Norden, Platz der Ahnen, und schon stelle ich mir die Holzhütte als ein Ahnenhaus vor. In meinem Rücken ist ein Gewusel und Gemurmel – aha – ich scheine auf der richtigen Spur zu sein. Meine anfängliche Aufregung und Sorge, mir vielleicht zu viel vorgenommen zu haben, weicht. Vertrautes Terrain tut sich auf, schon oft gedacht, schon viel gelesen und schon so manches bereist.
Die Sonne macht mich etwas schläfrig, der kleine Eiszapfen über mir tropft in einem regelmäßigen Rhythmus auf die Erde. Fast jegliches Geräusch wird vom Schnee geschluckt und ich mag gar nicht weitergehen.
Ein Eichelhäher fliegt kreischend an mir vorbei.
Ich schrecke hoch und da sitzt sie, mir genau gegenüber, auf dem Stamm. In einem Orakel während der langen Nächte polterte sie in mein sanftes Wünschen. Baba Yaga wird sie genannt, eine Knochen-Alte aus dem Slawischen. Ihr schiefes Häuschen auf Hühnerbeinstelzen ist wenig einladend und ihr durchdringender Blick macht eine Flucht aussichtslos.
Sie blinzelt zu mir hinüber und schon legt sie los: „Soso, sitzt schön behaglich an der Holzwand, hüllst dich in ein weiches Ahnenmäntelchen. Das soll ein Schwellengang sein? Stellst du dir so die Ältesten vor, den Norden, den Winter, die Kargheit?“
Dann knallt sie mir einen alten Suppentopf vor die Füße, er hat keinen Boden!
Weg ist sie!
Ich bleibe wie angewurzelt sitzen und verstehe überhaupt nichts mehr.
Was soll ich mit einem Topf ohne Boden – das macht doch überhaupt keinen Sinn. Und doch komme ich nicht mehr los von diesem Bild und von der Heftigkeit, mit der sie mir den Topf vor die Füße geworfen hat.
Ich packe meine Sachen zusammen und gehe weiter. Ein richtiger Topf, das würde doch viel eher passen. Suppe kochen, Nahrung für die Gemeinschaft, schön übers Feuer gehängt, der Winterkälte trotzend. Das ist doch der Norden!
Auf einem freien Feld bleibe ich stehen, hilflos und zornig. Ich will, dass sie nochmal kommt und rufe laut: „Was soll das mit diesem alten Topf ohne Boden? Was willst du eigentlich?“
Und sie kommt! Und wie sie kommt, mit Getöse und wildem Gefuchtel. Sie erhebt ihre krächzige Stimme, raunzt mich an:
„Ja, was glaubst du denn, wie du zu einer Ältesten wirst? Ein schöner Kupferkessel hätte dir natürlich besser gefallen, wie in den Märchen, am besten noch mit Zauberkraut und natürlich würde er sich nie ganz leeren. Das wäre doch so eine richtig feine Essenz gewesen, ganz nach deinem Geschmack, ja, so ein schöner Schwellengang. In die gut vorbereitete Bestätigung wärst du hineingetaumelt statt die Begegnung mit dir selbst zu wagen. Ein Topf ohne Boden ist ein kraftvolles Werkzeug! Es schützt dich vor jeglichem ZUVIEL!“
Weg ist sie! Ich fühle mich wie in einem Kettenkarussell. Es ist ein Verlieren und Finden im gleichen Atemzug, Schleier fallen, Gelerntes und Durchlebtes werden einfach fortgeweht, es ist wie rückwärtsgehen und gleichzeitig ankommen.
Ich gehe zu der schmalen Brücke, die über den Bach führt und bleibe stehen. Hier ist meine Schwellenreise zu Ende. Ich bedanke mich mit tiefer Ergriffenheit. Mein ganzes Wesen versteht augenblicklich, was mit ZUVIEL gemeint ist. Die Älteste im Norden ist eine, die sich auskennt mit den kalten Winterstürmen, die vorgesorgt und zugleich Unnötiges losgelassen hat. Sie kennt ihre Grenzen, sie ist eine unter den anderen, Teil der Gemeinschaft, ihre Kraft und ihr Wissen teilt sie ohne Erwartungen. Sie weiß um die Gefahr des Getrenntseins. Die Älteste mit dem alten Topf ohne Boden will niemanden mehr retten, die Wunden des Sommermädchens wurden ausreichend gewürdigt.
Der bodenlose Topf zeigt mir das Geheimnis und die Medizin des JETZT. Im Norden ist die Arbeit getan, hier blicke ich nicht zurück und auch nicht voraus. Erst wenn die Sonne langsam höher steigt, werde ich den Topf auf die Erde stellen und in das Winterdunkel hineinhorchen – welcher Traum wird sich dem Licht zuwenden, wie heißt das neue Gespinst? Eine weitere Runde ums Rad beginnt. Mit meinem alten Topf ohne Boden werde ich lernen, offen zu bleiben. Der Moment, der Augenblick, das Nicht-Wollen und meine Liebe zu all den vielen Geschichten, die die Menschen ans Feuer rufen, füllen den Topf der slawischen Alten. Wenn ich weiterziehe, ist er wieder leer. Egal wo ich bin, mit wem ich bin – das Bodenlose wird zum heiligen Raum.
Ich gehe über die Schwelle, über die Brücke und bedanke mich tief und seelenwarm bei Baba Yaga, dieser knorrigen Alten, die mir den wohlgestalteten Boden unter den Füßen wegzieht und mir den Spiegel vorhält. Unkonventionell ist sie, schenkt scheinbar Wertloses und klopft das alte Wissen ab. Die Übergänge sind ihr Reich, eine unabhängige, wilde Schwellenhüterin.
Im Norden werden wir eine Älteste… Ich löse mich von dem „wir” und stelle mich in den Norden.
„Ich bin eine Älteste, an meinem Nordstab hängt ein alter Topf ohne Boden und mit ihm hüte ich die Visionen des Ostens, die unverletzbare Seele des Sommermädchens und die Träume des Westens.“
Text und Bild: Christine Kostritza
Dir gefällt was wir machen… dann bring uns ins Netz. Danke
Liebe Christine, was für eine Weisheit und wie schön es ist, deine Texte zu lesen, Danke fürs Teilen und so flüssig lebendig in Worte fassen. Überhaupt die ganze Sammlung von euch Spinnerinnen ist mir ein Genuss um kaum vorhandene Zeit ;-)) zu ‘vertrödeln’ – ich freu mich über diese schöne Website! Danke :))
Liebe Petra,
Wie schön von dir zu hören. Immer wieder kommst du mir in den Sinn und ich sehe dich in deinem quirligen “Weiberhaufen” herunwuseln. Eure dritte Tochter ist jetzt auch schon 1 Jahr alt und so langsam kannst vielleicht wieder deine Fühler für dich selbst ausstrecken. Ich danke dir für deine Worte und wünsche dir einen eigenen wilden Faden.
Herzlichster Gruß, Christine
wie poetisch! So ein lehrreicher Schwellengang! Und so eine tolle Lehrerin, die Baba Yaga!
Dein Fazit berührt mich! Es ist glasklar, stark bodenständig, weise und alles verbindend! Eine verwurzelte, geerdete, weise Frau. Beeindruckend!
Liebe Seherin Christine: Der Topf ohne Boden ist ein riesengrosses Geschenk für mich. Damit werde ich jetzt gehen. Er befreit und öffnet Wege in weite, karge und altvertraute Ebenen. Ich danke dir von Herzen. Die Alte von hier, Christine Li
Hallo Christine,
Es ist schön, dass dir der Topf ein ebenso guter Gefährte sein kann wie mir. Falls wir uns einmal zufällig im Wald mit unseren bodenlose Töpfen begegnen, werden wir die Kargheit feiern !
Liebe Grüße Christine
Liebe Christine, immer und immer wieder bin ich im tiefsten Innern berührt von Deinen Geschichten… so sanft und gleichzeitig stark lassen sie etwas anklingen in mir… rufen sie… Ich danke Dir von Herzen, Brigitt
Liebe Brigitt,
Wie schön von dir zu hören ! Jetzt mit der Ostkraft, habe ich immer wieder an dich gedacht. An unsere herrliche Ostschild-Zeit ,unser “Mädelszimmer”, unsere feinen und auch herzhaften Begegnungen. Die Baba Yoga geht dieses Jahr mit mir ums Rad und holt so manches unter dem Teppich hervor.
Ein Baby Yoga Besuch nach Burgau würde ihr gefallen !
Liebste Seelengrüsse aus dem Allgäu