
Sie zögert. Schaut in die Tiefe. Ihr Herzschlag beschleunigt sich. Der Atem auch. Und sie fällt ihre Entscheidung. Schon hundertmal hat sie es durchgespielt. Jetzt ist es so weit.
Sie hat einfach keinen Bock mehr!
Sie wird NICHT mehr in den Brunnen springen. Und sie wird sich NICHT mehr mit der Spule in den Finger stechen. Geschweige denn diese Spule märchengetreu in den Brunnen werfen.
Sie behält den Faden in der Hand. Mehr noch, sie wickelt ihn auf. Andersrum. Rückwärts quasi.
Sie zieht das Brot mitsamt dem Ofen nach oben, den Apfelbaum mitsamt seinen 4 Jahreszeiten, die Kuh mitsamt ihrer Milch und ihren goldenen Hörnern. Dann das gemütliche Häuschen mitsamt dem wunderbaren Kräutergarten, die prall gefüllten Kissen mitsamt den unendlich vielen Schneekristallen und zu guter Letzt die Frau Holle selbst mitsamt ihrem magischen Kessel.
Frau Holle fliegt elegant nach oben, schüttelt sich den muffigen Staub aus ihren Kleidern und setzt sich auf den Brunnenrand.
„Na, das ist mal eine famose Idee. Darauf habe ich schon lange gewartet. Ich war gespannt, wie du es anstellen wirst. Und vor allem wann. Der Zeitpunkt ist klug gewählt. Dann leg mal los.“
Frau Holle schlägt die Beine übereinander und wippt leicht mit ihrem Fuß.
„Zuallererst muss die Goldmarie weg, dann die Pechmarie, auch die Stiefmutter. Ebenso das fürchterliche Pechtor, das goldene auch. Alles viel zu starr, überholt und bis zum Gehtnichtmehr durchanalysiert. – Ich springe jedenfalls nicht mehr in den Brunnen! Anderswelt hin oder her. Schnee gibt es ja auch kaum noch.“
Frau Holle hat aufmerksam zugehört. Dieses Märchen ist ihr schon lange zu polar, zu moralisch und zu kontrolliert. Allein das mit der Stiefmutter ist kompletter Unsinn. Als hätten sich die Frauen früher nicht selbstverständlich unterstützt. Ganz abgesehen von ihrem Wissen, Geburten zu kontrollieren. Und welche Göttin, bitte schön, würde heißes Pech auf eine Frau schütten? Um der christlichen Moral gerecht zu werden? Fleißige Frauen – faule Frauen? Absoluter Quatsch. Zumal Pech äußerst wertvoll ist.
Ja, es passierten und passieren wirklich wunderliche Dinge. Manche sehen sie gar als die Gattin Wotans. Und machen sie plötzlich zur germanischen Hauptgöttin. Natürlich an seiner Seite. Und natürlich ist es seine „Wilde Jagd“. Wozu dieses ganze Festlegen, sich abgrenzen, Beweise suchen und Landschaften nach ihr benennen?
Sie ist so alt wie die Welt, markiert den Rhythmus von Leben-Tod-Leben. Und Namen hat sie viele. Je nach Kultur, Mythologie und Jahreszeit.
Ihr reichts. Und zwar gewaltig. Der erste Frühlingsstrahl kommt ihr gerade recht. Und Frau Holle wird flugs zur mächtigen Holler-Hex.
Die Goldmarie, die keine mehr ist, staunt nicht schlecht. Die Pechmarie, die keine mehr ist und die Stiefmutter, die keine mehr ist, warten gespannt, was nun passiert.
Die Holler-Hex springt vom Brunnenrand und schaut alle der Reihe nach an. Es liegt ein fast vergessenes Prickeln und Bitzeln in der Luft.
„Wenn schon festlegen, dann richtig. Nämlich gar nicht. Überhaupt nicht. Im Gegenteil. Alles ist erlaubt. Sämtliche Visionen, Wünsche, Verrücktheiten, Schwerkraft sprengendes … einfach alles. Samenzauber vom Feinsten. Nichts muss sich beweisen, nichts wird festgelegt, niemand weiß, was daraus wird. Und zwar ein ganzes Jahr lang! Dann treffen wir uns wieder.“
Die Holler-Hex setzt sich mit einem kraftvollen Schwung auf den Brunnenrand. Stille. Ein Zurück gibt es nicht.
Doch muß das alles erst einmal verdaut werden. Die alte Geschichte, das Märchen sitzt ihnen noch mächtig in den Knochen. Und wie soll das gehen, so ganz ohne Plan? Veränderung war nie eine Option.
Der eigene Faden ist es schließlich, der sie mutig macht. Plötzlich spüren sie ihn. Obwohl sie miteinander verbunden sind, hat jede und jeder auch einen ganz eigenen Faden. Der Apfelbaum hat einen. Auch der Ofen, das Brot, das Häuschen mit dem Kräutergarten, das Schneekissen, die Kuh …
Die Pechmarie, die keine mehr ist, hat es sofort kapiert. Zu lange rumort es schon in ihr. Sie umarmt ihre goldene Schwester, die sie schon immer liebt und flitzt los.
Ein pechschwarzes Federgewand ist ihr heimlicher Schatz. Jetzt zieht sie es sich über. Toll sieht sie aus. Dann fängt sie an, laut, schrill und schräg zu singen. Falls man das so überhaupt nennen kann:
Brav und Rechts
Wird verhext.
Drauf gespuckt
Und weggepfurzt
Brav und Rechts
Wird verhext ….
Und schon ist sie weg. Wilde Kapriolen fliegend.
Der Apfelbaum fühlt sich durch die Jahreszeiten eingeengt. Er mag nicht mehr. Einfach so. Und so sieht man ihn mit Äpfeln jonglieren, die er noch gar nicht hat. Grandios.
Die Kuh legt sich queer und rennt quietschfidel über die Wiese. Olé schreit sie und wirft ihre goldenen Hörner triumphierend in die Höhe.
Der Ofen streikt. Dem Brot ist das recht. Als Intellektueller stets verkannt, will er sich jetzt voll und ganz dem „Leeren Raum“ widmen.
Das Schneekissen hat jetzt sowieso Pause. Was nichts heißt. Stille Kissen sind tief.
Das Häuschen mit dem Kräutergarten wollte schon immer einen Club Sauvage aufmachen. Mehr verrät es nicht. Nur ein klein bisschen – Nachtschatten-Partys … und so.
Die Stiefmutter, die keine mehr ist, will endlich mal in den Brunnen springen. Genau. Back to the roots. Matriarchatsforscherin, das wäre so ihr Ding. Und auf keinen Fall mehr auf irgendwelche Töchter aufpassen.
Und die Goldmarie, die keine mehr ist?
Sie ist völlig perplex. Bloß weil sie nicht mehr in den Brunnen springen wollte … als hätten alle schon längst darauf gewartet. So geht das also.
Das wird ein absolut famoses Jahr.
Mit einer grüngoldenen Kappe auf dem Kopf macht sie sich auf und davon. Ihre Haare hat sie zuvor knallrot gefärbt. Und Samen hat sie mehr als genug.
Und das Märchenbuch?
Ist geschlossen. Scheinbar ist eine Revolution im Anmarsch. Zumindest planen die Prinzessinnen eine Demo.
Und die Holler-Hex?
Sie fliegt mit ihrem Kessel gen Osten. Zu ihrer alten rotzfrechen und blitzgescheiten Busenfreundin. Und wie jedes Jahr um dieses Zeit:
Hühnerbeinorakel und Selbstgebrannter. Ohne Ende!
Autorin: Christine Kostritza
Bild: Jane Studio von AdobeStock.com
Dir gefällt was wir machen… dann bring uns ins Netz. Danke
Was für eine Wendung! Ein Lesegenuss mit purer Inspiration in der Luft! Danke, liebe Christine! Und der Apfelbaum – wow!
eine Wonne das zu lesen und ein ganzes Bilderbuch mit 10 Fortsetzungen durchweben mein Träumen … danke dir liebe Christine … das tut gut!