AhnenZeit

Wenn die Sonne sich zum letzten Mal am 31. 10. dieses Jahres in das rotgoldene Meer des Herbsthimmels senkt und der Nebel wie silbrige Schleier über den Feldern liegt, beginnt die heilige Zeit des Ahnenfestes.

Es ist jene Nacht, in der sich der Schleier zwischen den Welten auflöst. Eine Nacht, in der die Lebenden und die Toten einander wiederfinden und sich sehr nah sein werden. Die Erde selbst wird in dieser Nacht langsamer und tiefer atmen. Aus ihren Tiefen steigt das uralte Wissen empor, aus den Knochen, aus dem tiefen Erdreich, aus den Wurzeln der Bäume. Die Winde haben es bereits seit Tagen angekündigt.

Am Rande des Waldes versammeln wir uns, alle tragen wir ein Zeichen aus Asche auf der Stirn, geweiht durch das heilige Feuer, das tief im Inneren der Erde entzündet wurde und so rein gar nichts mit der Kirche zu tun hat. Die Flammen flackern und werfen tanzende Schatten auf die uralten Bäume, deren Äste sich wie knorrige Finger in den Nachthimmel erheben.

Inmitten des Kreises ruht der Ahnenstein, ein glatter, schwarzer Fels, der seit Jahrhunderten auf diesem Platz steht. Um ihn herum sind Opfergaben gestreut: Früchte der letzten Ernte, Bündel getrockneter Kräuter, und Brot, gebacken mit den Händen jener, die die Geheimnisse der AhnInnen hüten. Die Luft ist schwer vom Duft des Salbeis und der süßen, rauchigen Wärme von Myrrhe und Wachholder, die auf heißen Kohlen verglühen.

Mit leisen Gesängen beginnt das Ritual, uralte Worte, die längst vergessen schienen, dringen durch die Nacht. Unsere Stimmen verschmelzen, als ob sie selbst zu einem einzigen Wesen werden, das die Jahrhunderte durchschreitet. Einzeln treten wir vor und flüstern den Namen eines Ahnen, einer Ahnin in die Dunkelheit. Diese Namen sind wie ein alter Zauber, füllen die Luft und verbinden die Welt der Lebenden mit der Welt der Verstorbenen. Es heißt, dass die AhnInnen nur dann wahrhaft sterben, wenn ihre Namen nicht mehr gesprochen werden.

Plötzlich wird der Kreis still, und die Hüterin des Steins, die weise Alte mit silbernem Haar, erhebt sich. Sie trägt den uralten Kessel, darin Wasser aus der Quelle tief im Wald, wo das Blut der Ahnen einst vergossen wurde. Mit ruhigen, bestimmten Bewegungen gießt sie das Wasser auf den Stein. Dampf steigt auf und die Stimmen der AhnInnen erheben sich mit ihm, ein leises Raunen, das sich in den Herzen derer niederlässt, die zuhören können. „Sie sind gekommen“, flüstert die Hüterin, „sie sind bei uns.“ Die Knochenfrau tritt aus dem Dunklen hervor und nickt uns zu. Sie lädt uns ein, reicht jedem von uns das Horn des Lebens, gefüllt mit Met. Es wandert von Hand zu Hand, wir trinken, um die Verbindung zu unseren AhnInnen zu erneuern. Während das Horn kreist, öffnet sich der Kreis, und der Weg zu den AhnInnen wird sichtbar – ein unsichtbarer Pfad aus Licht, der zwischen den Welten verläuft. Die Alten sagen, wer in dieser Nacht mit reinem Herzen auf diesen Pfad tritt, kann mit den Ahnen sprechen, ihre Weisheit erbitten und verlorene Geheimnisse zurück in die Welt bringen.

Die letzte Kerze wird entzündet und ihre Flamme wirft lange, tanzende Schatten. Einige glauben, in diesen Schatten die Gestalten der Ahnen zu erkennen – ihre fernen Gesichter, ihre stillen Augen, die die Lebenden betrachten. Alle von uns sind eingeladen, vor den Altar zu treten und einen Wunsch zu äußern, ein Bitten oder einen Dank an jene, die vor uns wandelten. Kleine Geschenke werden dargebracht: Haarsträhnen, die ins Feuer geworfen werden, als Zeichen für das ewige Band zwischen den Generationen, oder Münzen, die man in die Erde vergräbt, um den Weg der AhnInnen zu ebnen.

Die Nacht trägt Geheimnisse, die nur der Nebel und die Sterne kennen. In diesen Stunden, wenn der Schleier hauchdünn ist, ist die Zeitlosigkeit spürbar. Die Ahnen flüstern durch das Laub, und wer genau hinhört, erkennt ihre Stimmen – so klar wie die Sterne über den kahlen, knochigen Zweigen. Es sind ihre Geschichten, ihre Lieder, die in uns weiterleben, die uns erinnern.

Das Ritual endet, doch die Verbindung bleibt. Wir treten aus dem Kreis, kehren in die Dunkelheit zurück, doch alle tragen wir ein Teil der Weisheit der Ahnen mit uns. In den kommenden Tagen werden die Zeichen sichtbar – Träume, in denen die Ahnen erscheinen, unerwartete Botschaften in den Flammen oder im Wasser. Denn in dieser Nacht, wenn das Licht des Lebens und das Dunkel des Todes sich berühren, werden die AhnInnen in uns lebendig.

Für mich ist diese Nacht noch nicht vorbei, im Kreise meiner AhnInnen und meiner Schwester – der Knochenfrau, sitze ich bis zum Morgengrauen mit ihnen zusammen. Wir trinken, feiern, trommeln, singen, stampfen, tanzen und lachen.

Es sind meine AhnInnen, die es mir ermöglichten, hier zu sein. Ich danke Euch.

 

Autorin: AhnenFrau – Alexandra Bürkle
Schichtbild: Alexandra Bürkle und AdobeStock von Jozef Klopacka

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Dieser Beitrag hat 4 Kommentare

  1. Christine

    Liebe Alexandra,
    Du nimmst mich mit zu diesem uralten, schwarzen Ahnenstein und ich spüre die Asche auf meiner Stirn, sehe die Alte und die Knochenfrau… Dieses Eintauchen in deinen Text mit seinen wunderschönen Bildern ist ein Geschenk und meine AhnInnen und ich freuen uns sehr daran.
    Vielen Dank 🧡

    1. Alexandra

      LIebe Christine,
      wie ich mich freue und ich Dich sehen kann, wie Du mit am schwarzen Ahnenstein standes. Ich danke Dir für Deine Wort. Von Herzen Grüße. Alexandra

  2. Es ist ein ganz besonderes Fest im Jahreskreis! Die Kraft der Ahnen ist so spürbar und so tief berührend! Die weisen Frauen rufen uns zu den heiligen Orten. Wir, die diese unendliche Sehnsucht in uns spüren, hören sie… und folgen… dem Ruf, den Trommeln, den Feuern, unserer Sehnsucht…
    Mögen wir diesen Ruf immer hören, ihm folgen und ankommen – ganz im Vertrauen stets behütet zu sein. Behütet in uns und in der alten Zeit voller Magie.
    Danke für diesen wundervollen Beitrag!

    1. Alexandra

      Liebe Svenja, von Herzen Danke ich Dir für Deine Worte. Von Herzen Grüße Alexandra