Hekate, die mächtige Göttin der Schwellen, Kreuzungen und Übergänge, zieht seit Jahrtausenden die Menschen in ihren Bann. Sie ist eine Göttin der Widersprüche: einerseits tief in den rituellen Praktiken der Antike verwurzelt, andererseits zu einer modernen Ikone individueller Magie und Selbstermächtigung stilisiert. Doch was bleibt von ihrer ursprünglichen Bedeutung, wenn sie heute vor allem als „Hexengöttin“ und Patronin der Dunkelheit verehrt wird? Zeit, einen genaueren Blick auf Hekate zu werfen – und dabei kritisch zu hinterfragen, was wir aus ihr gemacht haben.
Hekate hat in der griechischen Mythologie eine herausragende Stellung. Sie ist eine der wenigen Gottheiten, die sowohl im Himmel, auf der Erde als auch in der Unterwelt verehrt wird. Hesiod beschreibt sie in seiner „Theogonie“ mit beeindruckender Ehrfurcht:
„Zeus ehrte sie überaus und verlieh ihr gewaltige Ehren: auf der Erde und im Himmel und im Meer. Und sie fand Gunst, indem sie von den Sterblichen verehrt wird. Wer immer ein Opfer bringt und Hekate anruft, dem wird Gehör geschenkt, und er empfängt viel Gutes.“ (Theogonie, Verse 411–414).
Hekate ist die Göttin der Übergänge, und Übergänge bedeuten immer Veränderung. Sei es der Übergang zwischen Leben und Tod, Licht und Dunkelheit oder Sicherheit und Ungewissheit, sie begleitet die Menschen an diesen Schwellen. Ihre Fackeln sind dabei mehr als ein hübsches Accessoire: Sie symbolisieren das Licht, das den Weg durch die Dunkelheit weist und machen Hekate zur orientierungsgebenden Figur. Doch Hekate ist nicht nur eine Göttin, die an Schwellen wirkt, sie bringt auch Heilung. Ihre Verbindung zu Kräutern und Heilkunst macht sie zu einer Schutzmacht, die das Gleichgewicht zwischen Krankheit und Gesundheit bewahrt. Als Göttin, die über Leben und Tod herrscht, kennt sie die heilenden wie auch die zerstörerischen Kräfte der Natur. In der Antike wurde Hekate häufig in schwierigen Zeiten angerufen, sei es zum Schutz vor Krankheiten, zur Begleitung in Genesungsprozessen oder als Schutzpatronin gegen gefährliche Mächte, die Unheil bringen könnten. Besonders in ihrer Verbindung zu Pflanzen wie der Alraune, dem Mohn oder der Eisenhutwurzel zeigt sich ihre ambivalente Rolle: Heilung und Gift liegen oft nah beieinander.
Ihr Kult ist fest im antiken Volksglauben verankert und durchdringt die alltäglichen Praktiken der Menschen. Besonders das „Deipnon Hekates“, das am Neumond gefeiert wird, ist ein zentrales Ritual. Opfergaben wie Knoblauch, Kuchen und Honig werden an Kreuzungen niedergelegt – Orte, die als Schwellen zwischen den Welten gelten. Diese Gaben ehren Hekate und die Geister, die an solchen Orten verweilen. Gleichzeitig ist das Deipnon ein Akt der Reinigung: Alte Lasten und Unreinheiten werden buchstäblich aus dem Haus entfernt, um Platz für Neues zu schaffen. Aristophanes macht in seiner Komödie „Plutos“ eine spöttische Bemerkung über die Praxis:
„Frag Hekate, ob es besser ist, reich zu sein oder zu hungern; sie wird dir sagen, dass die Reichen ihr jeden Monat eine Mahlzeit schicken [in ihre Haustürschreine], während die Armen diese verschwinden lassen, noch bevor sie serviert wird.“ (Plutos, 410 ff.)
Dieses Zitat zeigt nicht nur, wie alltäglich und vertraut Hekates Rituale im antiken Griechenland waren, sondern auch, wie sie soziale Spannungen spiegelten. Es verdeutlicht die Ambivalenz ihrer Rolle: Einerseits war sie eine Göttin, die geehrt wurde, andererseits eine, deren Präsenz oft mit Unsicherheit und Angst vor dem Unbekannten verbunden war.
In der modernen Spiritualität zeigt Hekate ein anderes Gesicht. Heute wird sie oft als „Hexengöttin“ dargestellt, ein Symbol für persönliche Transformation, feministische Selbstermächtigung und individuelle Magie. Besonders in der feministischen Bewegung wird sie als Archetyp der „dunklen Weiblichkeit“ gefeiert – eine Patronin, die für Stärke, Unabhängigkeit und den Bruch mit patriarchalen Strukturen steht. So inspirierend diese Sichtweise auch sein mag, sie reduziert Hekate auf eine Seite ihres Wesens. Die Fackelträgerin, die einst Licht in die Dunkelheit brachte, wird zunehmend als Göttin der Schatten wahrgenommen. Ihre Rolle als Schutzgöttin der Gemeinschaft, als Vermittlerin zwischen den Welten, tritt dabei in den Hintergrund. Die moderne Romantisierung macht aus Hekate eine Ikone individueller Magie und einer persönlichen Reise, die wenig mit den kollektiven Ritualen und der gemeinschaftlichen Schutzfunktion ihrer antiken Verehrung zu tun hat.
Diese Projektion mag spirituell ansprechend sein, doch sie beraubt Hekate ihrer historischen Tiefe. Die Göttin, die einst mit Respekt, Hingabe und Ritualen verehrt wurde, wird heute oft zu einer blossen Archetypin stilisiert, die persönliche Bedürfnisse erfüllt. Dabei vergessen wir, dass Hekate in der Antike vor allem eine Göttin der Balance war – zwischen Gegensätzen, zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen Leben und Tod.
Vielleicht ist es an der Zeit, Hekate wieder in ihrer ursprünglichen Komplexität zu sehen. Ihre Rituale, wie das Deipnon, erinnern uns daran, wie wichtig es ist, Schwellen bewusst zu überschreiten. Die alten Symbole wie Fackeln, Schlüssel, Hunde und Schlangen lehren uns, dass Transformation immer mit Balance einhergeht. Hekate verlangt Respekt, Hingabe und die Bereitschaft, sich dem Unbekannten zu stellen. Ihre zeitlose Kraft liegt genau in dieser Herausforderung: die Schwellen im eigenen Leben nicht zu meiden, sondern mit Mut und Vertrauen zu überschreiten. Hekate ist und bleibt eine Göttin des Übergangs, des Wandels und der Balance. Wer sie wirklich verstehen will, muss bereit sein, die romantisierten Bilder loszulassen und sie in ihrer ganzen Vielschichtigkeit zu betrachten. Denn genau darin liegt ihre wahre Stärke und ihre Botschaft an dich, mich und uns.
Autorin und Foto: Luana Lightwood
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